Editorial: Zeitlichkeit in Kämpfen für eine gerechte Gesellschaft

You’ve always told me it takes time. It’s taken my father’s time, my mother’s time, my uncle’s time, my brother’s and my sister’s time, my niece’s and my nephew’s time. How much time do you want for your ‚progress‘?

(James Baldwin)

James Baldwin hat sein Leben lang für ein Ende der weißen Herrschaft gekämpft. Erlebt hat er es nicht mehr. Der Kampf für eine befreite, gerechte Gesellschaft hat seine Zeit überdauert, wie die seiner Eltern, Geschwister und Verwandter. Auch heute, 35 Jahre nach seinem Tod, liegt sie in weiter Ferne.

Wie viel Zeit braucht Fortschritt? Und wie fühlt sich diese Zeit an – für die, die Unterdrückung erleben und dagegen ankämpfen und für die, die den Verlust ihrer auf Unterdrückung beruhenden Privilegien fürchten? Lässt sich überhaupt von Fortschritt sprechen, wenn man sich in der heutigen Welt umschaut? Oder drehen wir uns in einem Kreislauf aus Gewalt und Unterdrückung? Falls alles schon dagewesene wiederkehrt, wofür kämpfen wir – und was bedeutet dann Utopie?

Diese Ausgabe des UNEINS Magazins versammelt Beiträge, die das Verhältnis von Zeitlichkeit und emanzipatorischen Kämpfen für eine gerechte Gesellschaft in den Blick nehmen. Dabei gilt es zunächst zu untersuchen, welche Konzepte von Zeitlichkeit, Fortschritt und Entwicklung wir unserem Denken überhaupt zugrunde legen (Seite 20-25). Es werden Zeitlichkeitsverständnisse indigener Gruppen in den Anden und wie diese den Widerstand gegen kapitalistisch angetriebene Umweltzerstörung formieren, beleuchtet (Seite 26) und es wird danach gefragt, welche Auswirkung die lange Geschichte der Diskriminierung Schwarzer Communities auf deren heutiges Vertrauen in das britische Gesundheitssystem hat (Seite 30). Zwei Artikel legen den Fokus auf feministische Kämpfe und reproduktive Gerechtigkeit in Lateinamerika. Einer beschäftigt sich mit der historischen Chronologie der Legalisierung von Abtreibung (Seite 48) und der zweite, entstanden aus einem Forschungsseminar, mit der Einordnung jener Kämpfe in das Paradigma linearer Zeitverständnisse und der eigenen Forschungsethik (Seite 40).

Weiter Beiträge nähern sich temporalen Verschränkungen von Vergangenheit und Gegenwart künstlerisch durch Installationen in Alltagsräumen (Seite 28) oder Lyrik (Seite 52) an und laden ein, das Thema aus ungewohnten Perspektiven zu betrachten. Zukunftsgerichtet loten weitere Beiträgen unsere Verständnisse von Utopien für eine gerechte Welt und deren Wichtigkeit für emanzipatorische Kämpfe, wie zum Beispiel Streiks, aus (Seite 8 & Seite 60) und setzen sich mit den Herausforderungen auf den Wegen zu transformativer Gerechtigkeit auseinander (Seite 56).

Das Thema für diese Ausgabe stand vor Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine und der sogenannten Zeitenwende fest. Beides hat uns die Aktualität des Themas schmerzlich versichert. Denn auch Kämpfe für Frieden und Sicherheit sind emanzipatorisch, wenn sie Freiheit von struktureller Gewalt und Ausbeutungsverhältnissen in ihren Friedensbegriff integrieren. Wie dies aussehen kann, zeigen verschiedenste Generationen von friedenspolitischen Aktivist:innen. In dieser Ausgabe findet sich etwa das Manifest von Frankfurter Jugendlichen für einen erneuerten Sicherheitsbegriff und die zivile Stadt (Seite 64), das Porträt einer friedenspolitischen Kämpferin aus dem frühen 20. Jahrhundert (Seite 34) und ein Generationengespräch mit Aktivist:innen, die sich im gemeinsamen Interview kritisch mit der Friedensbewegung auseinandersetzen (Seite 13).

Wir hoffen, durch die Auswahl der Beiträge vielschichtige Perspektiven auf das Thema Zeitlichkeit in Kämpfen um eine gerechte Gesellschaft aufzumachen und so zum Nachdenken anzuregen.

Als Beilage findet ihr in diesem Heft auch unser neues Format “Impulse”, das sich in der ersten Ausgabe mit Perspektiven der Friedens- und Konfliktforschung auf den Angriffskrieg auf die Ukraine und seine Folgen beschäftigt. Die Idee dazu entstand im Frühjahr aus dem Bedürfnis heraus, ein Format für aktuelle politische Geschehnisse zu finden.

Auch diese Ausgabe hat einen langen Entstehungsprozess hinter sich, an dem eine Vielzahl von Menschen beteiligt war. Danke an all die Beitragenden und Autor:innen, die dieses Magazin mit Inhalt füllen. Danke an die Peer-Reviewer:innen für die Auseinandersetzung mit den Beiträgen und das solidarische und präzise Feedback – über drei Monate hinweg! Danke an jene, die das finale Redigat in Windeseile fertigstellten. Ein besonderer Dank geht an Didem, die diese Inhalte in ein wunderschönes Format brachte. Danke an Euch, die ihr das Magazin in Euren Händen haltet, auch für Eure Geduld. Um unseren Autor:innen und Beitragenden eine Aufwandsentschädigung auszahlen zu können und den Druck des Magazins zu finanzieren, sind wir auf Eure Unterstützung angewiesen. Eure

UNEINS-Redaktion

Elena, Lea, Laura und Doro