Ungekürzt: Ein anti-utopisches Verständnis emanzipatorischer Kämpfe

** Aus Platzgründen konnten wir im Magazin nur eine gekürzte Version dieses Textes abdrucken. Hier ist der Text in ungekürzter Variante**

Ein anti-utopisches Verständnis emanzipatorischer Kämpfe

Peter Grönert

In der marxistischen und sozialistischen Tradition sind emanzipatorische Kämpfe als Etappen einer linearen historischen Entwicklung gesehen worden, die auf das utopische Endziel einer befreiten oder klassenlosen Gesellschaft bzw. der Revolution, durch die sie erreicht wird, gerichtet ist. Seit den 80er Jahren haben eine Reihe linker Theoretiker, wie Lyotard und Foucault, im Umfeld des Poststrukturalismus diese Forschrittserzählungen grundsätzlich kritisiert. Aus ihrer Sicht stellen sie ein Beispiel für die modernen ‚großen Erzählungen‘ dar, die die Vielfalt partikularer Identitäten sowie heterogener diskursiver und kultureller Praktiken reduzieren und nivellieren, indem sie sie in einen allumfassenden ideologischen oder politischen Rahmen einzuordnen versuchen. Umgekehrt ist vonseiten der traditionellen Linken gegen die postmoderne und poststrukturalistische Fokussierung auf Differenzen und die mikropolitische Ebene der Vorwurf erhoben worden, dass sie Gefahr laufe, den radikalen gesellschaftskritischen Anspruch sozialer und politischer Emanzipationsbewegungen zu opfern und sich stattdessen mit einer reformistischen Perspektive zu begnügen. Ich denke, dass dieser Vorwurf ernstgenommen werden sollte, aber dass anderseits die poststrukturalistische Kritik an globalen Forschrittsnarrativen im Prinzip berechtigt ist. In diesem Beitrag will ich daher versuchen, ein anti-utopisches Verständnis emanzipatorischer Kämpfe zu skizzieren, das deren Orientierung auf eine umfassende Veränderung der Gesellschaft bewahrt. Da es bei dieser Frage wesentlich um den Zweck solcher Kämpfe geht, stütze ich mich in meinen Überlegungen auf eine allgemeine Unterscheidung zweier Formen, in denen Handlungen ziel- oder zweckgerichtet sein können, nämlich auf die ursprünglich von Aristoteles stammenden Unterscheidung zwischen Poiesis und Praxis. Nachdem ich die für meine Überlegungen wesentlichen Aspekte dieser Unterscheidung erläutert habe (Teil I), werde ich mit ihrer Hilfe im zweiten Teil des Beitrages anhand von Foucaults und Butlers Überlegungen zu einer subversiven, antihegmonialen Mikro-Politik sowie der mit ihr verbundenen kritischen Haltung eine Konzeption emanzipatorischer Kämpfe als aristotelische Praxis skizzieren (Teil II). Abschließend (in Teil III) versuche ich diese Konzeption fruchtbar und plastisch zu machen, indem ich mit ihrer Hilfe das Verhältnis des allgemeinen emanzipatorischen Anspruches bestimmter Aufstands- und Widerstandsbewegungen zu den angestrebten spezifischen Zielen in Bezug auf die Pariser Kommune sowie die RAF in ihrer späteren Entwicklung exemplarisch erläutere.

I          Poiesis und Praxis

Ein einfaches und triviales Beispiel für den Gegensatz zwischen Poiesis und Praxis, wie Aristoteles ihn in seiner Nikomachischen Ethik  bestimmt, ist der Unterschied zwischen dem Gehen zu einem bestimmten Ort, z.B. zum Späti, und Spazierengehen. Gehen zum Späti exemplifiziert eine Weise des Handelns (Poiesis), die auf einen bestimmten Abschluss gerichtet ist, der nach Ablauf einer bestimmten Zeitspanne entweder erreicht oder verfehlt wird. Dagegen repräsentiert Spazierengehen eine Form des Handelns (Praxis), deren Sinn im Vollzug selbst liegt und deren Ziel oder Zweck daher im Verlauf der Handlung fortlaufend realisiert wird, ohne je ein für alle Mal erreicht zu werden. Genauer läßt sich der Gegensatz von Praxis und Poeisis fassen, indem man zeigt, wie die für Handeln als solches konstitutive Zweck-Mittel Struktur in beiden Formen des Handelns jeweils eine charakteristische Abwandlung erfährt. Allgemein hat absichtliches Tun bzw. Handeln eine instrumentelle oder Um-zu-Form, nämlich die Form „A tun, um B zu tun“ oder „B tun, indem man A tut“ (den Streichholz an der Schachtel reiben, um ihn zu enzünden; den Streichholz entzünden, indem man ihn an der Schachtel reibt). Dabei lassen sich zwei Grundformen dieser Um-zu-Struktur unterscheiden, die man respektive als kausale und konstitutive Instrumentalität bezeichnen kann. Bei der ersten beziehen sich „Mittel“ und „Zweck“ auf zeitlich aufeinander folgende Phasen der Handlung (z.B. den Weg zum Geschäft gehen, versus beim Geschäft ankommen). Dagegen sind bei der konstitutiven Instrumentalität Mittel und Zweck verschiedene Beschreibungen ein- und desselben Tuns im Sinn einer bestimmten zeitlichen Einheit, wobei das Tun nur unter die Zweck-Beschreibung fällt, weil auch die Mittel-Beschreibung auf es zutrifft (so ist das, was jemand bei einer Versammlung tut, das Abgeben eines Votums, weil es ein Heben der Hand darstellt). Bei zielorientierten, also poietischen Handlungen sind Mittel und Zweck deutlich unterschieden, während im Vollzug einer Praxis dieselbe Handlung als Mittel und Zweck fungiert, d.h. sie hat die Form „A tun, um A zu tun“. Dabei kann es sich nicht um eine Form konstitutiver Instrumentalität handeln, da Zweck und Mittel durch dieselbe Beschreibung (nämlich die Beschreibung, die an die Stelle von „A“ tritt) erfasst weden. Der Selbstzweck-Charakter von Praxis ist also nur in der Form kausaler Instrumentalität möglich, so dass in der Praxis der Unterschied zwischen Zweck und Mittel zum zeitlichen Abstand der Handlung von sich selbst wird. Ihre Form ist also genauer so zu bestimmen: „A tun, um weiterhin A zu tun“. Die bereits erwähnte Unabschließbarkeit der Praxis ergibt sich gerade daraus, dass sie wesentlich auf ihre eigene Forsetzung –  ihren weiteren Vollzug – gerichtet ist. Eine weitere zentrale Konsequenz dieser formalen Bestimmung von Praxis ist diese: Eine Praxis kann man nur vollziehen, indem man ihre verschiedenen Etappen durchläuft. So kann man nur Spazieren gehen, indem man einen Schritt nach dem anderen macht. Da diese Etappen wesentlich auf ihren zeitlichen Abschluss angelegt sind, stellen sie ihrerseits Formen von zielorientierter Handlungen dar. Demnach kann Praxis nur durch Poiesis vollzogen werden. Während aber der für Praxis charakteristische Selbstzweck-Charakter, wie oben gezeigt, eine Form kausaler Instrumentalität bildet, also in der zeitlichen Aufeinanderfolge verschiedener Phasen desselben Tuns besteht (Spazierengehen, um weiter Spazieren zu gehen), konstituiert das in jeder dieser Phase enthaltene Verhältnis der Poiesis– zur Praxisebene ein- und derselben Handlung eine Gestalt konstitutiver Instrumentalität (Spazieren gehen, indem dem man einen Schritt nach dem anderen macht).

Während  bei einem banalen Fall von Praxis, wie Spaziergehen, die einzelnen Etappen nur durch ihre zeitliche Position im Gesamtablauf unterschieden sind, beinhalten die wesentlichen und interessanten Formen selbstzweckhaften Tuns das Durchlaufen qualitativ verschiedener und aufeinander aufbauender Phasen. Dementsprechend besteht die Unabschließbarkeit des Zweckes beim ersten Typ von Praxis nur in ihrer potentiell unendlichen zeitlichen Ausdehnung, während dieser im zweiten Fall auch insofern unerschöpflich ist, als die betreffenden Formen von Praxis darauf zielen, den ihnen immanenten Maßstab ihres Gelingens immer besser, umfassender und vielfältiger zu verwirklichen. (Beispiele für Praxis in diesem anspruchsvolleren Sinn sind etwa die Produktion und Rezeption von Kunst, die Praxis der Freundschaft und eben auch emanzipatorische oder subversive politische Intervention.) Die letztere Erläuterung der Weise, in der der Zweck einer Praxis unendlich ist, könnte so missverstanden werden, dass es sich bei einem solchen Zweck um ein prinzipiell unrealisierbares Ziel handeln, dem wir uns nur immer mehr annähern können. Eine solche Vorstellung liegt z.B. Apels und Habermas‘ Konzeption sozialen Fortschritts zugrunde, derzufolge es dabei um die immer umfassendere Approximation an die notwendig kontrafaktische ideale Sprechsituation geht – entsprechend einer linearen Fortschrittskonzeption. Demgegüber ist in der hier vorgeschlagenen, nicht-linearen, von Aristoteles inspirierten Auffassung ein unendlicher Zweck von einem Ziel kategorial verschieden, so dass hier weder von Erreichen noch von Annäherung die Rede sein kann, da er auschließlich im gelingenden Vollzug der betreffenden Praxis liegt. Anders gesagt: Indem man die verschiedenen Etappen der Praxis durchläuft, realisiert man ihren Zweck fortlaufend, ohne ihn je realisiert zu haben.

II         Emanzipatorische Kämpfe als Praxis

Einige poststrukturalistische Theoretiker:innen, insbesondere Foucault und Butler, haben einen anti-hegemonialen, kritischen Diskurs als Alternative zu den globalen Fortschrittserzählungen der traditionellen, radikalen Linken entwickelt, der darauf hinausläuft, emanzipatorische Kämpfe als aristotelische Praxis aufzufassen. Ihre Kritik richtet sich in erster Linie gegen ein System von Machtbeziehungen, das durch seine Verschränkung mit bestimmten Formen der Wissensproduktion eine Norm der Subjektkonstitution durchsetzt, derzufolge ein Individum nur zum Subjekt von Handlungen, Urteilen, Begierden usw. werden kann, indem es sich diesen Machtbeziehungen unterwirft (diese Form von Subjektkonstitution bezeichnet Foucault wortspielerisch als „Subjektivierung“). So zieht sich durch Foucaults gesamtes Werk die Leitidee, dass das moderne Subjekt durch das Zusammenspiel der Humanwissenschaften mit den für unsere Gesellschaft charakteristischen Machtformen, nämlich Disziplinar- und Biomacht, hervorgebracht worden ist. Solche Subjektivierungsnormen sind für Foucault und Butler problematisch, weil ihre Wirkmächtigkeit auf einer naturalistischen Illusion beruht. Sie zwingen sich den Individuen nämlich dadurch auf, dass sie als Artikulation der universalen menschlichen Natur auftreten. Dadurch gerät das Individuum in die Situation, nur als Subjekt annerkennbar und verstehbar zu sein – also als Subjekt sozial, kulturell oder auch physisch nur überleben zu können – insofern es die betreffende Norm internalisiert. Der die moderne (und postmoderne) Gesellschaft prägende Macht/Wissens-Komplex zwingt die Individuen also gerade dadurch zur Konformität mit dem hegemonialen Modell menschlicher Subjektivität, dass er alternative Weisen, sich selbst zu verstehen sowie die mit ihnen einhergehenden  Formen gesellschaftlicher und diskursiver Praxis unintelligibel macht und so aus dem Horizont des Denkbaren ausschließt. Demgegenüber geht es insbesondere Foucault darum, die historische Kontingenz und Herrschaftsförmigkeit der betreffenden Subjektivierungsnormen durch eine Genealogie der sie installierenden und implementierenden Diskurse und Machtbeziehungen zu exponieren. Dabei versteht sich diese Kritik als solidarisch mit dem vielfältigen Formen kollektiven Widerstandes gegen spezifische subjektivierende Machtinstanzen, z.B. mit der Antipsychiatriebewegung, den Aufständen gegen das Gefängnisregime sowie den queeren subkulturellen Praktiken, die die Hegemonie der heterosexuellen Matrix unterminieren (letzteres ist besonders für Butler zentral).

Die Macht- und Subjektkritik dieser Autor:innen hat deutliche Resonanz mit bestimmten, emblematischen Motiven marxistischer Ideologie- und Gesellschaftskritik. So geht es in beiden Theorietraditionen um die Überwindung der Naturalisierung und Verdinglichung sozialer Beziehungen und ihrer Subjekte im Kapitalismus und anderen modernen Gesellschaften. Doch wird dieses Ziel jeweils grundsätzlich anders aufgefasst. So beschwören sowohl Lukács als auch die Frankfurter Schule das Ziel einer vollständigen Überwindung von Naturalisierung und Verdinglichung in einer klassenlosen, kommunistischen Gesellschaft, in der das vergesellschaftete Subjekt sich als Schöpfer:in der Formen sozialer Praxis versteht und konstituiert, die es formen. Das sind klassische Beispiele für eine utopische Konzeption emanzipatorischer Praxis in dem Sinn, dass ‚Emanzipation‘ hier jeweils als ein für alle Mal und erschöpfend realisierbares Ideal gedacht wird. Demgegenüber ist für die poststrukturalistische Tradition die Perspektive einer solchen allumfassenden Emanzipation illusorisch, da Subjektivität, sprachlicher Sinn und Wissen immer nur im Rahmen einer kontingenten Normierung diskursiver und nicht-diskursiver gesellschaftlicher Praxis möglich ist, die alternative Weisen, sich und die Welt zu verstehen und zu erfahren, ausschließt. Daher ist für sie die Befreiung von naturalisierender Subjektivierung ein Ziel, das niemals ein für alle Mal erreicht werden kann, sondern immer wieder im Überschreiten der je hegemonialen Diskurs- und Machtordnung anders realisiert und artikuliert werden muss. Die kritische und subversive Aktivität ist für sie also nicht die Bewegung auf ein Ziel hin (Lukács; Frankfurter Schule), auch nicht die unendliche Annäherung an ein solches (Apel; Habermas). Ihr Zweck liegt vielmehr im Moment der Überschreitung, im Hinausgehen über den Rahmen des Denk- und Sagbaren sowie über den Rahmen der Formen lebbarer Subjektivität, der durch die jeweils hegemoniale Ordnung der Diskurse und Machtbeziehungen festgelegt wird. Dieser Zweck kann also niemals definitiv erreicht werden, sondern ist entsprechend der fortlaufenden Verschiebung dieses Rahmens stets aufs Neue anders zu realisieren. So entwerfen Foucault und Butler ein Verständnis subversiver, emanzipatorischer Kämpfe und Kritik, demzufolge diese eine Praxis in dem Sinn darstellen, den ich im vorigen Teil dieses Beitrags (Teil I) in Anlehnung an Aristoteles erläutert habe. Dabei entspricht ihr Verständnis subversiver, transformativer politischer Interventionen nicht nur darin der oben skizzierten Konzeption einer Praxis, dass ihr Zweck weniger in ihrem Ergebnis als in ihrem Vollzug liegt und dementsprechend niemals ein für alle Mal verwirklicht werden kann, sondern auch im Folgenden: Wie oben dargelegt ist es für die anspruchsvollen oder paradigmatischen Formen einer Praxis charakteristisch, dass sie qualitativ verschiedene Phasen durchläuft, wobei jede neue Etappe die vorangegangenen (wie Hegel sagen würde) ‚aufhebt‘, d.h. als Momente in sich aufbewahrt. Dies entspricht insofern Butlers und Foucaults Sicht des Widerstandes gegen die hegemoniale Ordnung, als dieser den etablierten Rahmen des Diskurses so verschiebt, dass das spezifisch von diesem Ausgeschlossene – sein ‚konstitutives Außen‘ – einbezogen wird. Demnach wird in den fortlaufenden oder immer wieder neu entfachten anti-hegemonialen Kämpfen dieser Rahmen sukzessive erweitert. Foucaults genealogische Untersuchungen soll daher auch gerade dadurch das Selbstbewußtsein dieser Kämpfe vertiefen, daß sie diese mit der Geschichte widerständiger Praktiken vermittelt, die in ihnen fortgesetzt oder wiederaufgenommen wird.

Im folgenden Teil III soll abschließend ein entsprechendes Verständnis politischer Kämpfe konkret an Beispielen verdeutlicht werden. Dabei geht es mir vor allem darum, das Verhältnis des allgemeinen Emanzipationsanspruchs von Kämpfen und Widerstandsbewegungen zu den in ihnen verfolgten konkreten Zielen näher zu bestimmen.

III       Konkrete Projekte einer anti-utopischen emanzipatorischen Praxis

Das im letzten Teil in Anlehnung an Butler und Foucault skizzierte anti-utopische Verständnis emanzipatorischer Praxis prägt implizit zahlreiche anti-hegemoniale Bewegungen und Formen von Gegenmacht, wie die Pariser Kommune, die Münchner Räterepublik, die außerparlamentarische Opposition der späten 60er Jahre und den Aufstand der Zapatistas. Diese präsentieren sich damit als Alternative zur historisch dominanten Tradition der revolutionären, radikalen Linken, insbesondere in ihrer marxistisch-leninistischen Version, insofern letztere das Verhältnis der situativen, an begrenzten und spezifischen Zielen orientierten Dimension sozialer und politischer Kämpfe zur Perspektive umfassender sozialer Emanzipation als einen hierachischen Gegensatz gedacht hat, der sich auf drei verschiedenen Ebenen artikulieren lässt.

Handlungstheoretische Ebene: Lokale, situationsgebundene politische Projekte und Interventionen dienen dem Ziel umfassender sozialer Emanzipation in kausal-instrumenteller Weise, so dass ihre emanzipatorische Bedeutung allein darin liegt, dass sie wirksame Mittel für die letzendliche Überwindung des kapitalistischen Systems darstellen.

Politische Ebene: An bestimmten und begrenzten Forderungen orientierte Widerstandsbewegungen, sowie die durch sie errungenen Positionen lokaler Gegenmacht, müssen sich der revolutionären Avantgarde oder Partei unterordnen, da sie nur so auf den Zweck umfassender sozialer Emanzipation ausgerichtet werden können.

Historische Ebene: Die zu verschiedenen Zeitpunkten entstehenden Kämpfe gegen Unterdrückung, Ausbeutung und Diskriminierung sind Etappen einer linearen Entwicklung, die zum Endziel der Weltrevolution führt und damit zu einer klassenlosen, kommunistischen Gesellschaft, in der Unterdrückung und Ausbeutung endgültig und umfassend überwunden sind.

In den gerade genannten politischen Bewegungen und Projekten artikuliert sich ein Verhältnis der konkreten Zielen zum Zweck umfassender sozialer Emanzipation, das in allen diesen Punkten der orthodoxen linken Konzeption entgegengesetzt ist:

Handlungstheoretische Ebene: Diese Bewegungen und Projeke dienen konstitutiv-instrumentell dem Ziel umfassender sozialer Emanzipation, insofern es durch die Weise, wie konkrete Ziele erreicht und durchgesetzt werden, partiell vorwegnommen oder exemplarisch realisiert wird.

Politische Ebene: Statt sich der Autorität einer zentralen Machtinstanz (Partei oder ein revolutionäres Regime) unterzuordnen, organisieren sich die gemeinsam gegen bestimmte Ausbeutungs- oder Unterdrückungverhältnisse Kämpfenden selbst in basisdemokatischer Form.

Historische Ebene: Soziale Emanzipation ist das, was in diesen Kämpfen fortlaufend oder immer wieder aufs Neue geschieht und daher gerade kein, ein für alle Mal erreichbares Ziel.

Ein besonders prägnantes Beispiel für diese anti-utopische, basisdemokratische, lokalisierte Form emanzipatorischer Praxis stellt die Pariser Kommune dar. Ihre spezifische Bedeutung wird u.a. daran deutlich, dass sie trotz ihrer totalen Niederlage und ihrer schwerwiegenden strategischen Fehler, die diese begünstigt hat, eine enorme positive Resonanz sowohl im sozialistischen als auch im anarchistischen Flügel der Arbeiter:innenbewegung hatte, die vielfältige sozialrevolutionäre Projekte und Progamme inspirierte. Darin zeigt sich nämlich, dass ihre politische Relevanz nicht in einer durch sie bewirkten Verschiebung des Kräfteverhältnisses, noch in den von ihr proklamierten allgemeinen Zielen lag, sondern, wie Marx sagt, in ihrer „working existence“.[i] Damit ist folgendes gemeint: Sie hat exemplarisch vorgeführt, wie eine auf freier Kooperation beruhende gesellschaftliche Praxis unter der Bedingung einer industriellen Produktionweise möglich ist, indem in einer schwierigen Kriegssituation die Pariser Bevölkerung eine funktionierende basisdemokratische Selbstverwaltung aufgebaut hat, die den vielfältigen Interessen und Anliegen der heterogenen sozialen Gruppen (Arbeiter:innen und Intellektuelle, Männer und Frauen, Angehörige verschiener Nationen), die sich in ihr organisiert hatten, entsprechen konnte. So zeigt sich in der Pariser Kommune, wie auch in verwandten sozialen und politischen Projekten, dass Emanzipation nicht allein das Ergebnis von Kämpfen ist, sondern das, was in ihnen durch die gemeinschaftliche Praxis, die sie entfalten, sowie durch die mit ihr einhergehenden Formen solidarischer und kooperativer Beziehungen geschieht. Allerdings geschieht dies auf dem Weg des kollektiven Kampfes für bestimmte, konkrete Ziele – entsprechend meiner Feststellung in Teil I, dass Praxis sich über Poiesis vollzieht. Zu hinterfragen ist daher nicht nur die klassische, insbesondere marxistisch-leninistische Orientierung allein an einem Erreichen des Ziels der Emanzipation und – allgemein – eine rein strategische Auffassung, wie soziale und politische Kämpfe auf dieses Ziel bezogen sind, welche politische Kämpfe implizit auschließlich als Poiesis fasst (also bloß als Mittel zum Zweck). Genauso fragwürdig ist umgekehrt eine Verselbstständigung des Kämpfens als vermeintlichem Selbstzweck, bei dem man die Ziele, die dabei angestrebt werden, aus den Augen verliert (also emanzipatorische Praxis in totaler Abstraktion von der entsprechenden Poiesis hypostasiert). Ein Beispiel dafür wäre die spätere Entwicklung der RAF, die ihr ehemaliges, kurzzeitiges Mitglied Inge Viett entsprechend so problematisiert: „Prinzipiell finde ich die geplanten Anschläge auf Krösen, Heidelberger US-Militäreinrichtungen und Ramstein gut, aber ich verbinde mit ihnen nicht mehr den Aufschwung revolutionärer Kämpfe, nicht mehr die Schärfung politischen Bewußtseins und Willens in der Linken, geschweige denn in den liberalen Schichten …“ Wobei man sich fragen kann, in welchem Sinn diese Anschläge trotz ihrer von Viett konstatierten kompletten politischen Sinnlosigkeit dennoch in einer linken Perspektive „gut“ waren. Dass die RAF der frühen 80er Jahre diese Anschläge trotz des offenkundigen Fehlens eines konkret bestimmbaren politischen Zieles als Teil einer revolutionären Praxis verstehen konnte, verweist auf die gerade angesprochene Hypostasierung der Praxisebene emanzipatorischer Kämpfe. So setzt Viett ihre Beschreibung des damaligen Selbstverständnisses der RAF so fort: „Es werden Angriffe zum Zweck der Selbstverwirklichung und Selbstbestätigung sein. Bewaffneter Kampf als Selbstverwirklichung, als Lebensalternative, als Nischenpolitik, als Existenzform, nicht mehr als eine Müsli-Kommune, nur gefährlicher und spektakulärer. Es geht nicht mehr darum, die Revolution zu machen, was ja nur mit der Masse, der Klasse möglich wird, es geht nur noch um das ‚RAF-Sein‘.“[ii]

 

 

 

 

 

[i] Zitiert nach Kristin Ross (2016): Communal Luxury. The Political Imaginary of the Paris Commune. London/New York: Verso, S. 11.

[ii] Inge Viett (1996): Nie war ich furchloser. Autobiographie. Hamburg: Edition Nautilus, S. 237.