Eine verdächtige „Weibsperson”: Die Feministin & friedenspolitische Kämpferin Helene Stöcker

Eine verdächtige „Weibsperson”:
Die Feministin & friedenspolitische Kämpferin Helene Stöcker

Kerstin Wolff

 

Helene Stöcker (1869-1943) war eine bedeutende und unabhängige Pionierin ihrer Zeit. Sie war sowohl radikale Feministin als auch lautstarke Pazifistin. Dennoch ist sie heute so gut wie vergessen. Höchste Zeit also, eine Vorkämpferin wiederzuentdecken, deren Ideen an Relevanz nicht verloren haben.

In der Forschung wird Helene Stöckers Leben vor allem mit zwei großen Themen besetzt. Zum einen mit der Entwicklung der Frauenbewegung im 20. Jahrhundert sowie, eng damit verbunden, mit Stöckers Engagement für die von ihr ins Leben gerufene Neue Ethik. Zum anderen wird ihr pazifistisches Engagement in den Mittelpunkt gerückt, welches sich vor allem in der Weimarer Republik entfaltete.

Helene Stöcker als Feministin Geboren 1869, wuchs Stöcker in Elberfeld (heute Wuppertal) in einer tief religiösen Familie auf. Bereits in den 1890er Jahren knüpfte sie Kontakte zur Frauenbewegung und engagierte sich vor allem in der Bildungsbewegung. Sie forderte den Zugang zu den Universitäten und einen gleichberechtigten Zugang zu akademischen Berufen. Als sich 1896 die Türen der Berliner Universität zögerlich für das Frauenstudium öffneten, war Stöcker eine der ersten, die diese Chance nutzten und sich als Gasthörerin einschrieben. Zusammen mit anderen Studentinnen gründete sie im Wintersemester 1896/97 den Verein studierender Frauen, der sich als studentische Vertretung der bürgerlichen Frauenbewegung an den Universitäten verstand. Ziel des Vereins war vor allem die gegenseitige Unterstützung. Stöcker entwickelte nach ihrer bestandenen Dissertation im Jahr 1901, die sie noch in der Schweiz ablegen musste, da dies für Frauen an deutschen Universitäten noch nicht möglich war, einen eigenen Arbeitsschwerpunkt innerhalb der Frauenbewegung. Sie propagierte die Idee einer „Neuen Ethik“, die ein ganz anderes Licht auf die Sittlichkeitsproblematik um 1900 warf. Unter Sittlichkeit wurde damals der gesamte Komplex des sexuellen Lebens verstanden – mit all seinen Folgen. Stöcker setzte sich für ledige Mütter und uneheliche Kinder ein und versuchte, die sexuelle Beziehung zwischen Männern und Frauen neu aufzustellen. Liebe und das gemeinsame Kind sollten die Basis einer solchen Verbindung sein, und nicht die Anpassung an die bürgerliche Doppelmoral, die für die Frau Keuschheit bis zur Ehe vorsah, aber dem Mann vor und auch während der Ehe das Ausleben seines angeblich stärkeren Sexualtriebes gestattete.

Für Stöcker war klar, dass auch Frauen ein Recht auf eine ausgelebte Sexualität haben, und dass dieses Vorrecht nicht nur Männern zustand, die diese vorzugsweise mit gesellschaftlich abgewerteten Prostituierten auslebten. Um ihre Ideen umzusetzen, gründete sie 1903 den Bund für Mutterschutz. Stöcker fasste ihre Arbeit später in zwei Begriffe: Neue Ethik, verstanden als „Bekenntnis zu einer Moral der persönlichen Verantwortlichkeit, insbesondere auf sexuellem Gebiet“ und Mutterschutz als „Arbeit und Fürsorge für Mutter und Kind (…).“1 Damit besetzte Stöcker eine Position zwischen Frauenbewegung und Sexualreform und schuf eine der ersten Organisationen, die sich für uneheliche Kinder und ledige Mütter einsetzte, um diese aus der gesellschaftlichen Stigmatisierung herauszuholen. Sie beschäftigte sich mit der Prostitutionsfrage und kämpfte gegen die Kriminalisierung von Homosexualität und Schwangerschaftsabbrüchen. Außerdem setzte sie sich für die ökonomische Unabhängigkeit der Frau in der heterosexuellen Ehe ein.

Helene Stöcker als Pazifistin

Spätestens um 1900 hatte sich Stöcker auch der neu entstehenden Friedensbewegung angeschlossen, ohne allerdings zu Beginn eine führende Rolle zu übernehmen. Dies ändere sich schlagartig, als der Erste Weltkrieg begann. Im Gegensatz zu vielen anderen Aktivistinnen der Frauenbewegung unterstützte sie den Krieg nicht durch weibliche Hilfsarbeiten. Sie trat aus der Kirche aus, da diese den Krieg unterstützte und stimmte nicht in das allgemeine Abwerten der nun feindlichen Staaten mit ein. Für sie stand fest, dass der Krieg nur Verlierer hat, egal auf welcher Seite der Front. Ihre Überzeugung hielt sie in ihrem Kriegstagebuch fest, in dem es etwa unter dem 12. September 1914 hieß: „Aber die Rohheit, die man jetzt täglich in der Presse liest!” Im Simplizissimus z. B. heißt es: „Wir wollen doch nicht alle totschießen, damit für das Bajonett auch noch etwas übrig bleibt. Ist das der heilige Krieg, für die Weltkultur, der das auslöst? Und wir alle stumm und ohne Protest dagegen?“.

Ihre aktive Mitarbeit in Friedensverbänden2 , die Teilnahme an Tagungen der international vernetzten Pazifist*innen im neutralen Ausland3 und die Öffnung ihrer Zeitschrift für Forderungen nach einem schnellen Friedensschluss ohne Annexionen durch Deutschland waren ihre Konsequenzen aus dem Weltkrieg. Ihre Positionen trugen ihr Zensur und behördliche Überwachung ein, denn ihr doppelter Tabubruch, Kritik an rigiden Sittlichkeitsvorstellungen zu üben und sich zugleich als Kriegsgegnerin während des Weltkrieges zu bekennen, machten Helene Stöcker bei den Militärbehörden zu einer verdächtigen „Weibsperson“. Ihr pazifistisches Engagement führte Stöcker auch in der Weimarer Republik fort. Als eine von wenigen Frauen war sie in leitenden Positionen in verschiedenen pazifistischen Organisationen tätig. Zu ihrem 60. Geburtstag 1929 war Stöcker eine hoch angesehene und bestens vernetzte pazifistische Feministin. In fast 400 Zeitungen & Zeitschriften des In und Auslandes erschienen Beiträgen oder Notizen zu ihrem Geburtstag, die sie zum Teil überschwänglich als herausragende Pazifistin & Frauenrechtlerin würdigten. Sogar der Rundfunk in Berlin, Hamburg und Leipzig räumte für sie Sendezeit ein; ihre Weggefährten und Freundinnen organisierten Festveranstaltungen in Berlin, zu denen mehr als 200 Personen kamen. Helene Stöcker konnte diese Ehrungen zu Recht als Krönung ihres bisherigen politischen Wirkens empfinden.

Der Nationalsozialismus als Generalangriff auf Feminismus und Pazifismus

Warum ist sie heute dennoch so wenig bekannt? Ich stelle hier die These auf, dass das Vergessen von Helene Stöcker viel mit dem Einbruch des Nationalsozialismus und dem Aufleben konservativer Familien- und Ehevorstellungen in der Nachkriegszeit zu tun hat. Der Nationalsozialismus kam einem Generalangriff auf Stöckers Lebenswerk gleich. Er vernichtete ihre materielle Grundlage, ebenso wie er das Gedenken an Stöcker fast vollständig auslöschte. Er raubte ihr die Möglichkeit, weiterzuarbeiten, ihr drohte der soziale und gesellschaftliche Abstieg. Bereits im Februar 1933 floh Stöcker ins Ausland, nachdem Freunde ihr gesagt hatten, sie würde auf einer schwarzen Liste stehen. Bei ihrer Flucht konnte sie nur wenig mitnehmen. Ihre breite Korrespondenz, ihre Bibliothek und den größten Teil ihrer Unterlagen musste sie zurücklassen. Stöcker wählte zunächst Zürich als dauernden Aufenthaltsort in der Emigration, anfangs mit ungesichertem Status ohne Anerkennung als politischer Flüchtling. Als die Nationalsozialisten den Abfluss von deutschen Konten ins Ausland stoppten, konnte sie sich bald nicht mehr aus eigener Kraft ernähren, denn aus schriftstellerischer Arbeit erwirtschaftete sie fast nichts. Obgleich sich Helene Stöcker in der Emigration direkter politischer Betätigung enthielt, wurde sie Anfang 1938 aus Deutschland heraus staatsfeindlicher Tätigkeit beschuldigt. Ihr Hausanteil in Berlin wurde daraufhin enteignet, ihr Konto in Deutschland endgültig gesperrt und der Briefverkehr mit ihren Verwandten in Deutschland erschwert. Am 9. März 1938 wurde sie mit der Veröffentlichung im „Reichsanzeiger“ ausgebürgert und damit staatenlos. Nach der Übersiedelung nach Großbritannien wurde sie beim Besuch des Internationalen P.E.N. Kongresses in Stockholm vom durch Hitler-Deutschland ausgelösten Zweiten Weltkrieg überrascht. Sie entschied sich zunächst im neutralen Schweden zu bleiben, obwohl sie über nichts Weiteres verfügte als über die Habseligkeiten, die sie für ihre Reise gepackt hatte.

Jetzt erst recht war die inzwischen Siebzigjährige auf finanzielle Unterstützungen angewiesen. Zwar blieb sie unbeugsam in ihrer antimilitaristischen Haltung, doch eine Möglichkeit, sich wenigstens propagandistisch eindeutig antifaschistisch zu positionieren, sah sie für sich nicht mehr. Nicht einmal zu einer niederschwelligen politischen Beteiligung an einer von Kurt Hiller 1936 in Umlauf gesetzten Resolution für die Öffentlichkeit konnte sie sich entschließen: „Seit 1933 habe ich keine Resolution mehr unterschrieben. Ich bin nicht mehr in dem Stadium, in dem man das thut. Dazu gehört ein gewisser Glaube an die Wirkung solcher Dinge. Den habe ich gründlich verlernt. Daher ist es ja auch so schwer für mich zu schreiben. Was eigentlich? Es ist ja alles so belanglos geworden.“

Durch Vermittlung des „National Refugee Commitee“ gelang es ihr schließlich 1941, die für die Flucht in die USA notwendige Bürgschaftserklärung, das sogenannte Affidavit, zu erhalten. Die in der US-amerikanischen Frauenfriedensbewegung sozialpolitisch engagierte Ruth Gage-Colby (1899-1984) sicherte ihr außerdem zu, dass sie in ihrem Haus in Minnesota unterkommen könne. Bereits todkrank verließ Helene Stöcker 1941 Stockholm, flog über Riga nach Moskau, fuhr von dort mit dem Sibirienexpress nach Wladiwostok, setzte nach Tsuruga in Japan über, kam auf dem Landweg nach Tokio und schließlich von Yokohama über Honolulu nach San Francisco, wo sie nach sechswöchiger Reise körperlich sehr geschwächt landete. Ihre letzten Jahre verbrachte sie in New York, vollkommen abhängig von Spenden aus der Frauenbewegung. Dort starb sie am 23. Februar 1943, verarmt, in Europa nahezu vergessen. Ihre vage Zuversicht, nach dem Weltkrieg in ein vom Nationalsozialismus befreites Europa zurückkehren zu können, erfüllte sich nicht.

Die Erinnerung aufleben lassen

Die in Berlin bei einer Schwester verbliebenen Unterlagen von Helene Stöcker, wie Texte und eine breite Korrespondenz, wurden im Zweiten Weltkrieg komplett vernichtet. Die Erinnerung an die Pazifistin verblasste zunehmend, auch deshalb, weil im Kalten Krieg sowohl der Pazifismus als auch die Infragestellung der bürgerlichen Doppelmoral wieder in Verruf gerieten und weil sie keine lupenreine Sozialistin gewesen war, was ihr eine Erinnerung in der DDR gesichert hätte.

Erst als in den späten 1970ern im Rahmen der Entstehung der Frauengeschichte den Vorkämpferinnen der Frauenemanzipation wieder mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde, wurden die Zeitschriften und Bücher von Helene Stöcker wiederentdeckt und die Geschichte dieser spannenden Frau ausgegraben. Seitdem wissen wir wieder von ihr und können uns an sie erinnern, an ihren mutigen Kampf und an ihren Versuch, Frauenemanzipation und Pazifismus zusammen zu denken. Dabei werden auch Aspekte ihres Werkes diskutiert, die aus heutiger Sicht kritisch zu betrachten sind: In den Werken der Nietzscheanhängerin finden sich Passagen, die auf ein eugenisches Gedankengebäude hinweisen. Diese Textpassagen sind für heutige Leserinnen und Leser schwer von Äußerungen zu unterscheiden, die im Nationalsozialismus zur Ermordung von Menschen – im Namen der Eugenik – geführt haben.

Die gesellschaftliche Debatte des frühen 20. Jahrhunderts ist geprägt von einer Sprache, die heute, mit der Erfahrung des nationalsozialistischen Ermordungswahns, alle Alarmglocken schrillen lässt. Allerdings gilt es hier sehr genau zu betrachten, welche Position Stöcker vertritt. Stöcker spricht sich für eine Beschränkung der Bevölkerungsvermehrung mit Methoden der Geburtenkontrolle aus. Für sie bedeutete dies die Forderung nach einem straffreien Schwangerschaftsabbruch, Verhütungsaufklärung sowie die Freigabe von Werbung und Vertrieb von Verhütungsmitteln. Sie fordert in keinem ihrer Artikel jemals eine ‚Eliminierung‘ oder ‚Ausmerzung‘, also das, was die nationalsozialistische Politik unter Eugenik verstand. Die Geschichte von Helene Stöcker zeigt uns eines doch sehr klar: Erinnerungen können nur dann von einer Generation auf die nächste weitergegeben werden, wenn es Institutionen gibt, die diese tragen – Privatpersonen allein können das nicht leisten. Nicht umsonst vernichten Diktaturen immer zuerst Einrichtungen, die sich einer aufklärerischen und nicht-staatlichen Geschichtserinnerung verschrieben haben – jüngstes Beispiel ist das Verbot der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial, die die Verbrechen des Stalin-Regimes aufarbeitet und archiviert.

Deshalb sind Freie Archive wie etwa Frauenbewegungseinrichtungen so wichtig. Doch sie allein reichen nicht aus: In jeder Generation muss es genügend Menschen geben, die bereit sind, sich diese vergangenen Erfahrungen und Erinnerungen anzueignen – denn von alleine erinnern sich alternative Lebensläufe und Ideen nicht. Archive helfen, Wissen über die Zeit zu bewahren – lebendig bleibt es nur, wenn es sich angeeignet und sich darauf bezogen wird.Deshalb ein Appell: Rein in die alternativen Bibliotheken und Archive, lernt die Geschichte eurer Vorfahr*innen kennen und setzt euch mit ihren Ideen auseinander – ich weiß aus eigener Erfahrung, dass dadurch das eigene Leben reicher und das Engagement bewusster wird.