Interview mit María Cárdenas
Das Interview führten Lea Otremba und Laura Kotzur
Im Zeitraum vom 01.09.2021 – 30.10.2022 hast du eine Reihe von Workshops für die DFG-VK mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen zum Thema Frieden und Sicherheit durchgeführt. Wie kam es dazu und was war die Idee dahinter?
Die DFG-VK ist eine der ältesten friedenspolitischen Organisationen in Deutschland, aber seit einigen Jahren steht sie vor der Herausforderung eines Generationenwechsels. Das DFG-VK Bildungswerk Hessen wollte gerne durch ein kleines Forschungsprojekt erfahren, wie dieser zustande kommen kann und was das inhaltlich und organisatorisch bedeuten würde, also was Jugendliche und junge Erwachsene eigentlich mit Blick auf Frieden und Sicherheit wollen. Das Projekt hat es sich daher zum Ziel gemacht, ihnen die Möglichkeit zu geben, sich näher mit Themen der Friedenspolitik auseinander zu setzen. Dabei sollten ihre Perspektiven nicht nur entwickelt und in Dialog gebracht werden, sondern diesen vor allem auch der nötige Raum gegeben werden, um sie als wichtigen Beitrag in der Debatte zu Frieden und Sicherheit zu verstehen. Was bedeuten Frieden und Sicherheit für sie? Wie manifestiert sich ihre Abwesenheit in Frankfurt und für wen? Welche Bedarfe identifizieren sie selbst und welche konkreten Vorschläge formulieren sie, um von Frankfurt ausgehend einen Beitrag leisten zu können? Ein Verständnis hierfür zu entwickeln war wichtig, um als eine Organisation, die seit 1892 existiert und einstmals eine breite gesellschaftliche Bewegung vertrat, mit dem Generationenwechsel und dem demographischen Wandel in Deutschland umzugehen. Diese (Dis-)Kontinuitäten in der Bewegung zeichnen sich ja gerade angesichts der aktuellen politischen Lage als zentrale Herausforderungen ab. Die Workshops waren daher wichtig, um diesen komplexen Fragestellungen weiter nachzugehen.
Wie sahen die Workshops konkret aus? Wie habt ihr euch solch zentralen Fragen und Themen angenähert?
Zunächst haben wir versucht, Gruppen zusammenzustellen. Das war gar nicht so einfach, daher haben wir Jugendliche von 14-29 Jahren, die z.B. schon in Jugendverbänden organisiert waren, zusammengebracht, was sich letztendlich als sehr positiv herausgestellt hat. Im ersten Schritt haben wir Workshops pro Gruppe bzw. Jugendverband gemacht und im zweiten Schritt haben wir zu einem gemeinsamen Auswertungsworkshop eingeladen, in dem die Teilnehmenden der verschiedenen Verbände sich kennenlernen und gemeinsam die Ergebnisse auswerten konnten. Insgesamt haben wir fünf Workshops plus den gemeinsamen Auswertungsworkshop durchgeführt. Alle waren konzeptionell von der Befreiungspsychologie und der aktivistischen Forschung (participatory action research) inspiriert. Die Teilnehmenden waren Interessierte von Fridays for Future, dem Sozialistisch-Demokratischen-Studierendenverband (SDS), der freiwilligen Feuerwehr, der Hochschulgruppe Miranda und dem evangelischen Jugendwerk. Mir war besonders wichtig, dass sich diese unterschiedlichen Perspektiven gemeinsam über Frieden und Sicherheit austauschen, ohne dass ich durch einen inhaltlichen Input das Thema vorgebe. Das war vor allem spannend, weil die Perspektiven teilweise doch sehr unterschiedlich waren, es aber auch viele Überschneidungen gab. Unterschiedlich war zum Beispiel das Verständnis vom Begriff “Sicherheit”. Er wurde von vielen Gruppen zunächst kritisch betrachtet, weil sie ihn mit dem staatlichen Sicherheitsdiskurs in Verbindung brachten, der ihnen zufolge zu “mehr Unsicherheit führt”, z.B. durch Überwachung, Hostile Design, Gentrifizierung, Ausgrenzung und Gated Communities, etc. Einzig die freiwillige Feuerwehr hatte ein positives Verständnis von institutionellen Sicherheitsbestrebungen. Der Austausch zwischen diesen Gruppen im Auswertungsworkshop half, ein gegenseitiges Verständnis für die unterschiedlichen Perspektiven und Bedürfnisse z.B. mit Blick auf “Sicherheit” zu entwickeln und beispielsweise emotionale und materielle Sicherheit anzuerkennen und diese von Unsicherheit schaffenden Diskursen abzugrenzen. Einig waren sich alle Gruppen spannenderweise darin, dass die zunehmende Fragmentierung der Gesellschaft, die in Frankfurt auch durch die Gentrifizierung weiter angekurbelt wird, eine der größten Herausforderungen ist, um eine Form von Frieden und Sicherheit aufzubauen, v in on der alle Menschen profitieren können. Dies spiegelt sich ganz konkret in der Lebenswelt von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Milieuspaltung wieder, also darin, dass sich alle, wie sie selbst sagten, “in Blasen bewegten”, obwohl sie sich eigentlich wünschten, andere Gruppen kennenzulernen und in Dialog zu treten. Sie wünschten sich “Räume, um aus Räumen heraustreten zu können”. Der Auswertungsworkshop war daher für viele bereits ein erster Beitrag zur Überbrückung dieser Milieuspaltung.
Als Ergebnis haben die Teilnehmenden ein Manifest formuliert, das hier auch abgedruckt ist. Es macht unglaublich wichtige Punkte zur Verknüpfung von Frieden und Sicherheit auf. Möchtest du noch auf bestimmte Erkenntnisse hinweisen? Und wie geht’s jetzt damit weiter?
Interessant ist hier wirklich auch die lokale Bezugnahme auf den Raum Frankfurt. Die Verknüpfung von Frieden und Sicherheit wird ganz besonders zentral, wenn man sich auf diese lokalen Orte und Lebensräume konzentriert. Das heißt aber nicht, dass die Jugendlichen und jungen Erwachsenen dabei den globalen Kontext vergessen hätten. Im Gegenteil. Der Bezug auf Frankfurt hilft vielmehr, die Verschränkungen von globalen und lokalen Formen des Unfriedens und der Unsicherheit, von Ausbeutung und Ungerechtigkeit fassbar machen und anprangern zu können, ohne in Ohnmacht zu verfallen. Das war ein ganz wichtiger Punkt, den die Methode erreichen konnte: Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu ermächtigen, dass sie selbst einen Beitrag für mehr Frieden und Sicherheit leisten können. Beide Punkte, also die Verknüpfung von Frankfurt mit globalen Formen der Unterdrückung und Gewalt, sowie die Ermächtigung der Teilnehmenden werden im Manifest sehr deutlich. Auch beim Schreiben des Manifests war der Prozess komplett ergebnisoffen und letztendlich haben sich die Teilnehmenden vor allem auf eine Aussage geeinigt: Frieden und Sicherheit können nicht erreicht werden, solange weiterhin Ungleichheit produziert wird und Menschen lokal und global ausgebeutet und entrechtet werden. Damit Alternativen hierfür geschaffen werden können muss es mehr entsicherheitlichte (städtische) Räume geben, um Selbstermächtigung und damit nachhaltigen Frieden zu ermöglichen. Frankfurt muss zur zivilen Stadt werden.
Manifest der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in FFM
Wir, Jugendliche und junge Erwachsene aus Frankfurt, wollen und können die Welt wie sie ist nicht mehr akzeptieren. Es muss sich etwas ändern! Wir – das sind Studierende von Francisco de Miranda Frankfurt, Aktive aus Fridays for Future FFM und Mitglieder von die Linke.SDS Uni Frankfurt. Unsere Stimme erheben wir gemeinsam mit der an der Initiative beteiligten Jugendfeuerwehr und der evangelischen Jugend aus Frankfurt.
Viele unserer Freunde, unserer Mitschüler:innen, Kommiliton:innen und wir selbst leben in Unfrieden und Unsicherheit. Auch wenn wir unterschiedlich stark betroffen sind, glauben wir daran, dass sich etwas durch unsere gemeinsame Kraft verändern kann. Frieden und Sicherheit klingen nach großen Themen, aber sie betreffen uns ganz praktisch im täglichen Leben.
Getrieben von Zukunftssorgen geraten viele in inneren Unfrieden, weil wir in einer Welt leben, in der berechenbare und gestaltbare Lebensbedingungen fehlen. Ein großer Teil der Bewohner:innen von Frankfurt lebt von Tag zu Tag, von Woche zu Woche und von Monat zu Monat. Es ist unsicher was folgt: Wird die Miete erhöht? Muss ich bald wieder umziehen? Reicht meine Leistung, um einen sicheren Job zu bekommen? Behalten meine Eltern ihre Anstellung? Ist jemand da, wenn es mir mal schlecht geht? Kann ich mich zu Hause sicher fühlen? Ist meine Familie sicher? Wir wollen Antworten und die Antworten auch mitgestalten.
Wir brauchen Sicherheit, und sie steht uns zu. Keinem Menschen sollte ein Rückzugsort fehlen, ein Zuhause ohne Gewalt, ohne materielle Not. Ein Ort, an dem wir sein können wie wir sind und nichts verstecken müssen. Zu diesem Ort muss Frankfurt werden, als eine Stadt, die für alle, die hier leben, da ist und nicht nur für wenige.
Wir stellen uns eine Stadt vor, in der die Unterschiede zwischen Menschen keine Rolle spielen und der Ungleichbehandlung ein Ende gesetzt wurde. Wir wollen den Kreislauf aus psychischer und physischer Gewalt durchbrechen, der einigen von uns täglich begegnet. An der Sicherheit, die es dafür braucht, wollen wir mitarbeiten – und wir können uns auf staatliche Stellen allein nicht verlassen. Zu oft hat die Polizei gezeigt, dass sie Unsicherheit verbreitet, zu oft sorgt Überwachung im öffentlichen Raum nur für eine Verlagerung von Problemen, zu oft wird Menschen in schwierigen Lagen nur Missachtung und Ignoranz statt Hilfe entgegengebracht.
Bei alldem sind wir uns bewusst, dass unsere Anliegen nicht an den Grenzen der Stadt oder des Landes stehen bleiben können. Frieden und Sicherheit gibt es nur global. Dafür sind Verständigung, gemeinsamer Austausch und die Anerkennung von Selbstbestimmungsrechten der lokalen Bevölkerung unumgänglich. In Frankfurt und international braucht es dafür keine selbsternannten Retter:innen; wir wollen strukturelle Veränderungen und keine bloße „Charity“, die am Ende nur denen nützt, die sich damit nicht selten von ihrem schlechten Gewissen freikaufen wollen.
Krieg und Vertreibung sind auch hier präsent: durch Menschen, die in Frankfurt ein neues zu Hause suchen oder gefunden haben, durch ihre Erfahrungen, durch ihr Wissen. Aber Frankfurt ist auch eine Stadt der Wirtschaft, als Finanzmetropole ist sie eingebunden in den Kreislauf aus Krieg, Hunger und der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen. Nach Untersuchungen der NGO Facing Finance finanziert beispielsweise die in Frankfurt ansässige Deutsche Bank viele der relevanten Rüstungskonzerne. Mit der Europäischen Zentralbank sitzt außerdem ein zentraler Akteur für eine klimagerechte Zukunft ohne Kriege um Ressourcen in der Stadt. Diese und weitere Institutionen müssen verpflichtet werden, zu einem zivilen Frankfurt beizutragen.
Ein System, das ständig Ungleichheit produziert und dafür sorgt, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht, ist für uns keine sinnvolle Zukunftsperspektive. Angeheizte ökologische und Ressourcenkonflikte, militärisch eskalierte Konflikte und Ungleichheit verwehren einem großen Teil der Menschheit ein friedliches und sicheres Leben.
Frieden und Sicherheit gehören für uns zusammen und sind nur durch sozialen Ausgleich, Verständigung und gegenseitige Anerkennung erreichbar. Dafür braucht es Sicherheit für alle Einwohner:innen Frankfurts, friedlichen Austausch und einen Ausschluss für Geschäfte die zu Gewalt und Krieg beitragen. Es braucht dringend eine andere Welt – und die ist auch möglich!
Wir fordern, dass Frankfurt 2022 zur zivilen Stadt werden muss, und laden alle dazu ein, gemeinsam für eine friedliche und sichere Zukunft einzutreten!
María Cárdenas ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Goethe-Uni Frankfurt und promoviert an der JLU Gießen zum Dekolonisierungspotential von Peacebuilding in Kolumbien, aufbauend auf aktivistischer Forschung mit afrokolumbianischen und indigenen Friedensaktivist:innen. Sie ist Co-Sprecherin des AK Herrschaftskritische Friedensforschung der AFK und war vorher in der internationalen Zusammenarbeit tätig.