Gedankensprünge zu Gerechtigkeit und Transformation

Während ich mit zitternden Händen tippte, bahnten sich die Informationen im Binärcode von der Tastatur zum Bildschirm. Gefühlt wurden die Tippgeräusche von meinem Herzrasen übertönt. Ich fasste mir an die Brust, als die Frequenz des Herzschlags so stark zunahm, als veranstalte mein Körper ein Basskonzert für jede Zelle und Faser seiner Existenz.

Ausgelöst durch den Beitrag eines Künstlers auf Social Media, dessen Botschaft diametral den Konsequenzen meiner Erfahrung entgegengesetzt war. Einer äußerst gewaltvollen, traumatischen Erfahrung.

Der Beitrag versetzte mich noch viel mehr in Rage, Wut und Empörung, als ich sah, dass dieser Künstler progressiven Kreisen zugeordnet wird. Kreise, die ich mehr oder minder als sichere Häfen betrachte, in denen die Erfahrungen von Gewaltopfern nicht relativiert werden. Kreise, in denen ich mich gerne verorte und bewege. In einer Welt, in der sonst Täter*innen-Opfer-Umkehr an der Tagesordnung steht.

Es überkam mich die Befürchtung, dass ich selbst in den progressiven Blasen nicht mehr sicher bin. Dann überprüfte ich, wer diesen Beitrag „geliked“, geteilt und kommentiert hat. Mit wem der Künstler interagiert. Also tippte ich. Während sich meine Gedanken formten und über die Nervenbahnen ihren Weg in meine Finger fanden, bildete sich auf dem Bildschirm Zeile um Zeile ein Argument nach dem anderen, weshalb die Botschaft des Künstlers schädlich sei und welche strukturelle Gewalt er damit reproduziere.

Obschon meine Argumente sich Ziegel um Ziegel aufbauten, verbunden durch den Mörtel akademischer Rhetorik, eröffnete sich mir wie durch einen Automatismus die Möglichkeit des Outcallings: Ich könnte ihn öffentlich zur Verantwortung ziehen. Wozu Argumente, wenn ich aufgrund des Machtgefälles zwischen ihm und mir und dem Alleinstellungsmerkmal meiner Betroffenheit ohnehin eine Mauer errichten kann? Unsere Bubbles sollten politisiert genug sein, um zu erkennen, dass ich im Recht und er im Unrecht ist.

Also tippte ich weiter. Das Dokument umfasste zwei DIN-A4 Seiten. Dann konfrontierte ich ihn stattdessen mit zwei kurzen Fragen. Seine Antwort? Rhetorische Ausflüchte und Anspruch auf Deutungshoheit durch die Überlappung seiner marginalisierten Identitäten. Zwei Selbstgerechte, ein Gedanke. Nur wessen Identität(en) wiegen schwerer?

“… we emphasize our marginalized identities and downplay our privilege ones to seem cooler and more important, and to shied ourselves from critique.” – Kai Cheng Thom

Schließlich ist relevant, welche Unterdrückungsmechanismen greifen: Rassismus, Klassismus, Geschlecht, Colorism, Heteronormativität, Ableismus,… Also stellte ich die Machtfrage. Bin ich privilegierter oder marginalisierter? Habe ich einen Anspruch auf Kritik, bis hin zu Outcalling, oder baue ich mit den Ziegeln gerade die Mauern auf, die mich selbst ausgrenzen werden? Und worum geht es eigentlich?

Chuzpe. Weder werde ich seine Privilegien offenlegen, noch meine Marginalisierungen. Ich bin auch keine weiße Frau, welche durch Spitzfindigkeit den Vergleich von Sexismuserfahrungen mit Rassismus verschleiern möchte. Ich möchte weder sein Trauma zum Konsum freigeben, noch meine, um authentischer und konkreter zu wirken. Also setze ich es aus. Fest steht: Er ist in mehrfacher Hinsicht marginalisiert, ich auch. Und wir bewegen uns nicht allzu fern voneinander, was unsere Marginalisierungen angeht.

Obgleich ich bis heute davon überzeugt bin, dass ich sowohl durch inhaltliche Auseinandersetzung als auch durch faktische Betroffenheit durchaus im Recht war, den Künstler für seine Ausführungen zu kritisieren, offenbarte sich mir durch die Lichtstrahlen des Bildschirms, welche sich ihren Weg durch die Netzhaut in meine Gedanken suchten, ein weiterer Gedanke: Ist das nun unser State of the Art?

“There is no hierarchy of oppression.” – Audre Lorde

In meinem Drang nach Antizipation und Einordnung fragte ich mich, warum meine Argumente erst dann legitim sind, wenn ich meine Identitäten und Traumata offenbare. Als müsste ich erst eine Dienstleistung erbringen, um zu existieren. Nicht das Trauma ist die Dienstleistung, sondern ihre Offenlegung. Die Offenlegung ist eine Dienstleistung, deren Mehrwert darüber entscheidet, ob ich vorrübergehend Zugang zu Ressourcen erlange. Ressourcen des Gesehen- und Gehört-werdens, Mitleid, Authentizität, Legitimität. Die Legitimation zu Gerechtigkeit, Policing, Bestrafung.

Für Solidarität müsste ich aber keine Dienstleistung vollbringen. Gerecht ist das nicht. Aber wir leben in keiner gerechten Welt. Der Kampf um Ressourcen und des Gesehen- und Gehört-werdens ist auch unter marginalisierten Kreisen Ausdruck eines kapitalistischen Wettbewerbs. Ein Kampf um Liebe, Anerkennung, Würde und Respekt. Im Grunde genommen ist es der Kern von Kapitalismus, Herrschaft und Macht: Mit verschiedenen Unterdrückungsmechanismen Legitimation daraus zu schöpfen, die Anderen im Wettbewerb um künstlich verknappte Ressourcen zu bestrafen, weil wir vom Scheitern der Anderen profitieren.

Eine Pervertierung dessen, was Identitätspolitik eigentlich entlarven wollte: die Benennung der verschiedenen Unterdrückungsmechanismen im Wettbewerb um Ressourcen. Stören wir uns also an Macht und Instrumenten der Unterdrückung, oder daran, wer sie ausübt?

“Your trauma is your passport, and without it you will not be allowed entrance into public or even private spheres, you will not be considered authentic enough.” – Yasmin Nair

Aber nix da, mit armem Tor und so klug sein wie zuvor. Es haben sich schon lange vor meiner Geburt Menschen im Zwang nach Antizipation Gedanken über die Überlappung von Identitäten, Intersektionalität und Unterdrückung gemacht. Bei der Frage um Identitätspolitik ging es nie um eine Annäherung und Gleichstellung zu Macht, sondern ihre Abschaffung. Eine Abschaffung der Grenzregime, die Menschen dehumanisieren und innerhalb der Grenzen in Zellen halten, und außerhalb in Zelten. Die Abschaffung der systematischen Herrschaft, welche uns ohnehin entmenschlicht. Ein System, nicht auf Heilung bedacht, sondern auf Bestrafung, Ausgrenzung und Ausbeutung.

Eine Abschaffung kolonialer Institutionen, die nicht aus einer falschen Identitätspolitik jene Instrumente nutzen, um eine Diversifizierung der Gewalt zu erreichen. Eine Abkehr von der Internalisierung kolonialer und ideologischer Zurichtung, bei der wir sichere Räume schaffen und das Brechen der zu unserem Schutz geschaffenen Regeln bestrafen, als wären wir der personifizierte Vater-Staat. Wir leben Staatlichkeit durch Gewalt und bestrafen Gewalt durch Staatlichkeit.

“Why does it feel like we’re committed to punishment and enjoying it?” – adrienne marie brown

Aber was ist die Konsequenz daraus, dass die bestehenden Systeme der Gewalt – Polizei, Recht und Justiz nicht uns schützen, sondern die Herrschaft über unsere Körper? Flaggen auf Halbmast, Schweigeminuten, Diversity? Vielleicht erfinden wir auch das Rad des Abolitionismus neu. Und finden als Subjekte der Moderne einen alternativen Umgang mit Gewalt, der nicht auf Ausgrenzung, Bestrafung, Scham und Schuld aufbaut, sondern individuelle und kollektive Verantwortung und Heilung.

Ein Ort, in dem der Künstler sein Recht wahrnimmt, zu existieren, zu reflektieren, ohne Beschämung ausgesetzt zu sein. Ein Raum, der mir ermöglicht, ihm auch aus dem Weg gehen zu können, ohne mich in der Opferrolle zu bewegen, mein Trauma zum Konsum freizugeben und Genugtuung durch individuelle und kollektive Befreiung zu erlangen. Ohne dass ich unheilige Allianzen eingehe, die uns beiden auf Dauer Schaden. Ein Raum, der nicht auf der Dichotomie von „gut“ und „böse“ basiert und Raum für Ambivalenzen zulässt. Ein Ort, in dem wir heilen können, bei dem ich nicht die Polizei anrufe, Policing legitimiere und „gerettet“ werde. Eine Praxis, die sich transformative Gerechtigkeit (eng. Transformative Justice) nennt. Gedankengänge, Konzeptionen, die uns von abolitionistischen Bewegungen aus der Vergangenheit wie dem Combahee River Collective mitgegeben wurden. Es geht darum, im Handlungsspielraum unserer Kontrolle Gerechtigkeit nicht durch Annäherung zur Staatlichkeit der Gewalt zu ersuchen.

“The Master’s Tools Will Never Dismantle the Master’s House.” – Audre Lord

Transformative Justice, weil das Ersuchen von Gerechtigkeit durch Recht, welches auf ungerechten Annahmen basiert, einer Transformation bedarf. Um aus der Vergangenheit zu lernen, um eine Zukunft im Raum unseres Handlungsspielraums zu leben und eine alternative Form des Zusammenlebens zu erwirken. Es geht bei Transformative Justice nicht darum, Gewalt zu relativieren. Es geht um Transformation unserer Sichtweise und den Umgang mit Gewalt, der sich bislang nur in Vergeltung und Restoration widerspiegelt. Und höchstens in der performativen Behauptung, dass wir mit allen möglichen Ismen sozialisiert worden sind, ohne daraus eine Konsequenz zu ziehen, die nicht auf struktureller, institutioneller und systematischer Gewalt basiert. Sondern auf Heilung und Transformation.

Transformative Justice ist kein postmoderner Ansatz, der Wahrheit und Realität einem Relativismus aussetzt. Transformative Justice ist auch kein Laissez-faire des Liberalismus, den Status quo mit Täter*innenschutz aufrecht zu erhalten. Er bietet auch Raum für Missbrauch.

Natürlich könnte ich mir auch dahingehend die Frage stellen, inwiefern jener transformative Umgang mit Gewalt und die damit verbundene „emotionale Arbeit“ mit einer Form weiblicher Opferrollen korreliert und dadurch anders, als der männlich markierte Bestrafungsansatz als weniger befreiend wahrgenommen wird. Denn entgegen sichtbarer Bestrafungsmaßnahmen, wie Ausschluss und Gefängnis, wird emotionale Arbeit in der Regel sehr unsichtbar und somit als patriarchal abgewertet. Wenn wir die Lösung in der Bestrafung suchen, um Genugtuung zu erfahren, beteiligen wir uns an der Entwertung weiblich konnotierter Arbeit, weil wir lieber Bestätigung durch den „[Vater-]Staat“ suchen, als eine Lösung durch „[Mutter-]Sprache“. Vielleicht ist das ja auch gerade Anlass genug, Antizipation und Reflexion nicht mehr zu trivialisieren.

„To be morally purified by the Law. My wound becomes the Law” – Jackie Wang

So verletzt ich auch war, so viel Schmerz und Empörung die Tinte meiner Feder speiste, musste ich mir eingestehen, dass Canceling weder ihn zu einer Einsicht bewegt, noch mir Genugtuung verschafft hätte. Oder hätte es mir vielleicht doch Genugtuung verschafft? Meine Wut und mein Schmerz waren zwar berechtigt und real, die Konsequenz daraus konnte jedoch nicht die öffentliche Geißelung eines Menschen sein, der sich nicht allzu fernab von Unterdrückungsstrukturen befand, denen auch ich ausgesetzt bin.

Hätte ich ihn an den Pranger gestellt und durch den öffentlichen Druck sein Entschwinden erreicht, so hätte ich mich zwar individuell erfolgreich gewehrt, aber strukturell hätte sich nichts geändert. Ich hätte ihn von mir ferngehalten, vielleicht auch von einigen Anderen, aber das Problem ist weder aus der Welt, noch hätte niemand garantieren können, dass er sich mit der Situation befasst, die für mich so gewaltvoll ist.

Und vor allem: Wo hätte er angesichts seiner Erfahrungen einen sicheren Ort finden können, der Rechnung trägt, dass er Täter und Opfer zugleich ist?

Bio: 

Mina Jawad (sie/ihr) ist freie Autorin, Bildnerin und befasst sich in ihrer Arbeit mit der Konstruktion von Raum, Geschlecht und ihren Wechselwirkungen. Sie kooperiert unter anderem mit der Rosa-Luxemburg- und Heinrich-Böll-Stiftung sowie migrantischen Organisationen in diaspora-afghanischer Kontexte.