Friedensbewegungen im Umbruch

Ein Generationengespräch mit Helen Bader (geb. 1998), Nadine-Isabelle Kas (geb. 1997) und Martin Singe (geb. 1955)

Das Interview führten Leonie Disselkamp und Laura Kotzur.

Könnt ihr Beispiele für Ereignisse nennen, die der Auslöser für euer friedenspolitisches Engagement waren? Und würdet ihr euch einer bestimmten Bewegung zuordnen?

Martin (M): Ich bin momentan aktiv in der pax christi-Gruppe Bonn, in der Redaktion von der Zeitschrift Friedensforum und in der Kampagne „Büchel ist überall“. Das erste, was mich mit 17 Jahren berührt hat, war die Frage nach der Ungerechtigkeit in der Welt. Daher war mein Einstieg in die sozialen Bewegungen die damals sogenannte Dritte Welt-Bewegung. Zur Friedensbewegung kam ich dann in den 80er Jahren wegen des Nachrüstungsbeschlusses von 1979. Mir ist außerdem der lebensgeschichtliche Hintergrund wichtig. Meine Eltern haben den Krieg noch erlebt und darüber berichtet, mein Vater wurde in den letzten Jahren des Krieges eingezogen. Auch wenn meine Eltern darüber eher verhalten berichtet haben, war das immer wieder sehr präsent. Ebenfalls war die Auseinandersetzung mit der eigenen Kriegsdienstverweigerung prägend. Praktische Friedensarbeit umfasst aber mehr als nur Antimilitarismus. Für mich gehören Menschenrechte, Gerechtigkeit und Frieden sehr eng zusammen. Deshalb mache ich auch bei der Seebrücke mit und war lange bei Amnesty.

Nadine-Isabelle (N): 2019 habe ich bei der Internationalen Koalition zur Ächtung von Uranwaffen – ICBUW – angefangen und dort meine ersten friedenspolitischen Erfahrungen gemacht. Was dazu geführt hat, dass ich heute Politikwissenschaften und öffentliches Recht studiere und seit diesem Jahr als Projektkoordinatorin für Internationale Friedensarbeit bei der Friedenswerkstatt Mutlangen arbeite. Ursprünglich komme ich aber aus der  Antirassismus-Bewegung. Durch Reisen habe ich viele Menschen mit Migrationsgeschichte oder Geflüchtete kennengelernt und dadurch zum friedenspolitischen Engagement gefunden. Grundsätzlich betrachte ich die verschiedenen Bereiche des sozialen Engagements intersektional. Moment steht nukleare Abrüstung in meinem Fokus (vor einer Woche waren wir mit einer Jugenddelegation bei der Staatenkonferenz zum Atomwaffenverbotsvertrag), ich würde mich aber auch den Bewegungen für Klima- oder Gendergerechtigkeit zuordnen, die mal mehr und mal weniger relevant in meinem Leben sind.

Helen (H): Was bedeuten überhaupt Frieden und friedenspolitisches Engagement, im Sinne des weiten oder engen Friedensbegriffs? Mein Engagenemt habe ich während meines Bachelors zur Zeit der Fluchtbewegungen um 2016 bei der “Mobilen Flüchtlingshilfe” begonnen. Über ein Praktikum bin ich zur Friedenswerkstatt gekommen und bin offen für Überschneidungen in Richtung Eine Welt-/Fairhandels-Bewegung, also jener, wo Martin angefangen hat. Als Schirm über allem steht für mich die transnationale und intersektionelle Gerechtigkeitsbewegung.

Momentan gibt es recht laute Kritik an „der Friedensbewegung“. Die einen werfen ihr Scheitern vor, andere verweisen auf einen gewissen Dogmatismus in der Verteidigung des Pazifismusbegriffs, der die von Krieg Betroffenen und ihre Sichtweisen vernachlässige. Zuletzt gab es auch den Vorwurf, dass sich viele Ostermärsche nicht klar genug von der russischen Aggression abgegrenzt haben. Wie nehmt ihr diese Debatten wahr?

M: Den Vorwurf des Scheiterns finde ich unzutreffend. Wir haben in der letzten Zeit viele Erfolge gehabt, wie das Inkrafttreten des Atomwaffenverbotsvertrag vor einem Jahr. Das ist auch der Bewegung von unten, vor allem ICAN zu verdanken. Die Öffentlichkeit denkt auch ganz anders über schwere Waffenlieferungen nach – ich glaube, bei den Waffenlieferungen an die Ukraine steht es in der Bevölkerung 50/50, während die Medien und die Politiker jeden Tag für schwere Waffen und damit für eine Kriegsverlängerung eintreten. Die NATO ist von einer Verhandlungslösung abgerückt und argumentiert, die Ukraine muss jetzt für uns kämpfen und darf keine Verhandlungslösung aus einer Position der Schwäche heraus anstreben. Im Moment wird die Ukraine also quasi dazu gezwungen, diesen Krieg als Stellvertreterkrieg gegen Russland weiterzuführen. Da ist die Friedensbewegung von der Analyse her besser aufgestellt als viele Medien. Ich denke auch nicht, dass die Friedensbewegung die Opfer der Kriege nicht ernst nähme, wenn sie zum Beispiel generell Alternativen zu Militär aufzeigt. Bei uns hat es beim Aufruf für den Ostermarsch natürlich auch starke Kontroversen gegeben, weil die Einschätzungen zum Ukraine-Krieg unterschiedlich sind. Sie hängen davon ab, wie stark die Vorgeschichte des Krieges und auch die Fehler der westlichen Staaten und der NATO mit einbezogen werden. Aber wir konnten uns einigen: Friedensverhandlungen und Waffenstillstand sofort. Die UNO, die von der NATO stark an den Rand gedrängt wurde, sollte wieder die Hauptverantwortung für den Weltfrieden tragen. Dafür müsste ihr von den einzelnen Staaten mehr Macht zugestanden werden.

H: Ich gebe Martin recht in Bezug auf die Erfolge. Und trotzdem sehe ich die Friedensbewegung in diesem großen Dilemma, dass in der öffentlichen Diskussion Pazifismus mit einer Gleichgültigkeit gegenüber den Ukrainer:innen verstanden wird. Als Resultat kann man sich nur noch schwer gegen Waffenlieferungen positionieren. Persönlich hatten die Debatten einen großen Einfluss auf meine Sichtweise, da ich hierdurch meine zu Beginn noch eher stark pazifistische Einstellungen kritisch hinterfragt habe. Angesichts der russischen Aggression ist es meiner Ansicht nach kaum möglich, keine Waffen zur Verteidigung zu liefern, zumal die Ukrainer:innen für unsere Europäischen Werte kämpfen und sterben. Die Debatte an sich nehme ich als unheimlich präsent und belastend wahr, was jedoch nur ihre Relevanz unterstreicht. Ich persönlich war in die Ostermärsche nicht involviert. Äußerungen wie die von dem FDP-Politiker Lambsdorff, die Ostermärsche wären die fünfte Kolonne Putins, sind für mich dennoch wirklich fernab von jeder Realität. Man kann nicht denen die Schuld am Krieg geben, die rausgehen und gegen den Krieg demonstrieren.

N: Ich war lange sehr klar pazifistisch eingestellt. Letztes Jahr habe ich allerdings eine Summerschool vom ForumZFD mit deutschen und ukrainischen Teilnehmenden besucht, bei der es um Europa als Friedensprojekt und den Umgang mit Militarismus und Frieden ging. Seitdem tue ich mich schwer damit, einen klaren Standpunkt zu vertreten. Für mich als privilegierte Person, die noch nie einen gewaltvollen Konflikt erlebt hat, ist es natürlich leicht, andere aufzufordern, die Waffen niederzulegen. Durch den Austausch mit Menschen aus der Ukraine habe ich realisiert, dass reiner Pazifismus vielleicht nicht der richtige Weg ist. Ich habe Verständnis dafür entwickelt, wie verzweifelt Betroffene über die Forderung sind, immer diplomatisch reden zu müssen. Nach acht Jahren Krieg, in denen dein Bruder an der Front gestorben ist, sagen dir andere, dass wir Kulturaustausch fördern sollen, um zu Friedensverhandlungen zu kommen? Dementsprechend versuche ich jetzt, alle Seiten zu sehen und Betroffenen zuzuhören. Ein Scheitern der Friedensbewegung sehe ich aber nicht grundsätzlich, sondern eher eine kritische Phase, die auch stärkend sein kann. Ich denke, dass sich da gerade zwei Strömungen entwickeln, die vielleicht auch eine Generationendimension haben. In meiner Wahrnehmung bleibt die ältere Friedensbewegungs-Generation beim Pazifismus und lehnt Waffengewalt strikt ab. Die junge Friedensbewegung ist da etwas realpolitischer eingestellt. Das könnte man natürlich damit begründen, dass wir noch keine kriegerischen Auseinandersetzungen erlebt haben oder in einer Welt leben, in der durch die Digitalisierung alles viel unmittelbarer berichtet wird. Vielleicht bringt die aktuelle Spaltung mehr Austausch in eine Bewegung, die etwas eingeschlafen ist.

H: Als Ergänzung: Meine Grundhaltung ist, dass man Konflikte gewaltfrei lösen kann. Gleichzeitig ist ein dogmatischer Pazifismus realpolitisch schwierig, wenn jemand wie Putin sämtliche völkerrechtlichen Normen missachtet und einfach einmarschiert. Da haben die letzten Monate bei mir einen starken Lernprozess angestoßen. Ich denke, dabei spielt eine große Rolle, dass wir keinen Krieg miterlebt haben. Vielleicht ist es für uns deshalb leichter, sich von einem Konzept wie dem Pazifismus zu lösen, weil wir nicht wissen, was es bedeutet, sich diesen zu erkämpfen. 

Die Formulierung „sich den Pazifismus erkämpfen“ bringt in gewisser Weise ja vielleicht das Paradox zum Ausdruck, vor dem wir stehen. Ihr habt die Generationenfrage angesprochen. Es sieht so aus, als stünde die Friedensbewegung gerade vor der Herausforderung des Generationenwechsels. Manche sagen, die Friedensbewegung hat ein Imageproblem. Woran liegt das aus eurer Perspektive?

M: Unsere Generation musste sich zwangsläufig noch mit der eigenen Kriegsdienstverweigerung und der Bundeswehr auseinandersetzen. Dazu gab es Anfang der 1980er Jahre auch eine Angst-Bewegung vor einem drohenden Atomkrieg. Allerdings war die Friedensbewegung nicht nur zu dieser Zeit stark, zu bestimmten Anlässen hat sich immer wieder eine jüngere Bewegung (z.B. 2. Golfkrieg oder Irak-Krieg) formiert. Wie bei allen sozialen Bewegungen gibt es Wechsel zwischen Hochzeiten und Phasen, in denen die Beteiligung eher abnimmt, aber die Arbeit in Kleingruppen und regional weitergeführt wird.

N: Ja, die nuklearen Stationierungen in Deutschland haben den Aktivismus erst angestoßen, der zum Abzug der Atomwaffen in Mutlangen geführt hat. Die Motivation durch dieses Erfolgserlebnis ist noch heute bei vielen Akteur:innen aus dieser Zeit spürbar. Unsere Generation hat das nicht erlebt. Unser Interesse wurde erst durch den Krieg in der Ukraine und die Migrationsbewegungen der letzten 10 Jahre geweckt. Ich denke, dass gerade jetzt viele Menschen für friedenspolitische Themen einstehen möchte.

H: Ich würde auch die Kontextabhängigkeit betonen. Letztes Jahr war ich in Büchel bei den Aktionswochen. Das ist überhaupt kein Begriff mehr in unserer Generation. Für diesen Aktivismus wird man auch oft belächelt, weil das ein so langwieriges und in gewisser Weise nicht mehr zeitgemäßes Thema ist. Deshalb finde ich auch bewegungsübergreifende Verbindungen und den  gemeinsamen Einsatz für ein größeres Thema so wichtig.

Was kann eine starke friedenspolitische Stimme in der aktuellen Situation, z.B. angesichts des Sondervermögens für das deutsche Militär, auch innenpolitisch fordern? Welche Strategien sind erfolgsversprechend?

N: Ich zweifle, ob wir da als Zivilgesellschaft im Moment so viel Mitspracherecht haben. Es gab Gespräche mit Abgeordneten, bei denen zugesagt wurde, einen Teil des Geldes für nicht-militärische Projekte zu verwenden. Das wurde schon am nächsten Tag wieder klar abgelehnt. Auf der anderen Seite haben wir bei der Staatenkonferenz auch Gespräche mit deutschen Vertreter:innen geführt, die  ausdrücklich gesagt haben, dass sie unabhängig vom Atomwaffenverbotsvertrag humanitäre Hilfe für Opfer von atomarer Gewalt leisten möchten. Ich könnte mir vorstellen, dass wenn wir da genug Druck ausüben, das 100 Milliarden-Paket zumindest an weitere Gelder für zivile Programme zur Minderung der Kriegsfolgen gekoppelt wird.

M: Die wichtigste Forderung ist, einen Waffenstillstand und Verhandlungen im Ukraine-Krieg zu erreichen. Dazu muss die öffentliche Meinung gestärkt werden, die dann wiederum Druck auf die westlichen Politiker:innen ausübt, um Russland und die Ukraine aufzufordern, an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Beim 100 Milliarden-Paket sind wir als Friedensbewegung natürlich klar dagegen. Teile davon finanzieren den F35 Atombomber, der die Tornados als Transportmittel für Atombomben ablöst und zur Verewigung nuklearer Abschreckung beitragen wird. Und auch das FCAS-System, das mit Frankreich und Spanien entwickelt wird, die Kampfjets der sogenannten sechsten Generation, sind ein gefährliches Projekt, was hunderte Milliarden verschlingt. Viele der Jets werden vermutlich als Rüstungsexporte in Kriegsgebiete geliefert, weil wir die Stückzahlen ansonsten gar nicht selbst bezahlen könnten. Jetzt geht es darum, Alternativen in der Gesellschaft aufzuzeigen. Die alte Idee, dass ein Land militärisch verteidigt wird und dann erhalten bleibt, ist in hochindustrialisierten Ländern gar nicht mehr realistisch umsetzbar. Das sieht man ja auch an der Ukraine. Das Verhältnis der Opferzahlen gegenüber dem, was an Staatsgebiet gerettet werden soll, steht meines Erachtens in keinem Verhältnis zueinander. Eine unserer Forderungen ist, das 2%-Ziel der NATO und die weitere Aufrüstung infrage zu stellen sowie Formen der zivilen Konfliktbearbeitung und der sozialen Verteidigung in die Gesellschaft zu tragen. Gerade weil der Krieg in Europa zurückgekehrt ist, muss stärker diskutiert werden, wie wir uns als Gesellschaft wehren wollen, wenn wir angegriffen werden.

Das heißt, das Konzept der sozialen Verteidigung wäre eher etwas, was du präventiv für den Fall eines Angriffs hier etablieren würdest, statt den Menschen in der Ukraine in der aktuellen Situation dazu zu raten?

M: Man kann das natürlich auch der Ukraine nahelegen, aber dort war man eben nicht darauf vorbereitet. Wobei in vielen besetzten Städten auch ohne vorherige Organisation spontane Formen der sozialen Verteidigung und der Nichtzusammenarbeit mit den Besatzern durchgeführt werden, obwohl man davon wenig hört. Auch das Konzept der nicht-verteidigten Städte, das der Völkerrechtler Norman Paech nochmal ins Gespräch gebracht hat, könnte für die Ukraine wichtig sein: Bestimmte bevölkerungsreiche Gebiete werden von den Kampfhandlungen ausgenommen und zu Orten erklärt, die dann völkerrechtlich nicht angegriffen werden dürfen. In den Städten dürfen dann aber auch keine Verteidigungswaffen stationiert sein. Uns geht es darum, die soziale Verteidigung als reale Alternative zu diskutieren. Was man bei diesem Konzept lernt, ist auch generell demokratiefördernd, weil es die Widerstandshaltung und die Autonomie der Bevölkerung stärkt. Deshalb halten viele das Konzept für gefährlich, weil es natürlich auch gegen jede eigene Regierung, die autoritär wird, eingesetzt werden kann. Ganz zentral ist auch, über die Kriegsursachen zu sprechen. Dazu gehört im Kern unsere kapitalistische Lebensweise hier im Westen. Im Weißbuch der Bundeswehr wird beschrieben, dass der freie Zugang zu Rohstoffen und die Freihaltung der Handelswege im Notfall militärisch durchgesetzt werden sollen. Da werden imperialistische Interessen festgeschrieben, ein Weg, der tendenziell zu Krieg führt. Den Zusammenhang von Anti-Kapitalismus und der Gerechtigkeitsfrage betonen auch andere Bewegungen wie die Klimabewegung, die stärker von jüngeren Generationen getragen werden. Da werden die Bewegungen sicher noch stärker aufeinander zugehen.

H: Ich finde es unheimlich wichtig, Friedensmediatorinnen auszubilden und in Bezug auf die weitreichende Aufrüstung klarere Forderungen, wie von Martin artikuliert, zu stellen. Ich denke, die aktuellen Sanktionen gegen Russland müssten wie damals beim NATO-Doppelbeschlusses durch eine zweite Komponente ergänzt werden. Ich bin für die Sanktionen, aber es sollte auch ein Weg aus der Situation heraus aufgezeigt werden klar sein, d.h., dass die Sanktionen gestoppt werden, wenn die Aggression aufhört.

N: Ich finde es wichtig, der Jugend mehr Raum zu geben, sich zu engagieren. Ich habe oft die Erfahrung gemacht, dass es für die älteren Teile der Friedensbewegung schwierig ist, andere Ideen zu akzeptieren und zu fördern. Wir sollten von älteren Friedensbewegten lernen und ihnen zuhören, aber wir brauchen genauso die Möglichkeit, unsere eigenen Standpunkte zu entwickeln. Denn es ist unsere Zukunft und wenn wir uns nicht politisieren und engagieren, macht es niemand.