Als am 24. Februar 2022 ein Angriffskrieg gegen die Ukraine beginnt, sind alle entsetzt. Zwar hatten sich die Anzeichen für ein solches Vorgehen seit 2014 gemehrt. Dennoch verfallen viele in Staunen, dass »so etwas«, also ein offener Krieg zwischen Staaten in Europa, »heute« noch möglich ist. Es geht mir nicht darum, den russischen Krieg in der Ukraine irgendwie zu relativieren, doch wirkt an der Art der Überraschung etwas faul – insbesondere im Hinblick auf das darin liegende Geschichtsbild. So scheint auf diese Situation ein Satz, den Walter Benjamin in den Geschichtsphilosophischen Thesen niederschreibt, besonders gut zu passen: »Das Staunen darüber, dass die Dinge, die wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert ›noch‹ möglich sind, ist kein philosophisches. Es steht nicht am Anfang einer Erkenntnis, es sei denn der, dass die Vorstellung von Geschichte, aus der es stammt, nicht zu halten ist.«
Zwar schreiben wir mittlerweile das 21. Jahrhundert, doch hat sich an diesem Staunen wohl nichts geändert. Die Moderne wird als das Zeitalter verstanden, in dem nicht nur Krieg, sondern auch Sklaverei, Rassismus, Sexismus, Dogmatismus und viele weitere Formen der Unterdrückung endgültig an ihr Ende gelangen. Heutige Unterdrückungsverhältnisse gelten allenfalls noch als ein schwacher Schatten der Vergangenheit, die letzten Nachwehen eines überwundenen Problems. Die Moderne ist ein Symbol mit vielen Facetten: Der Beginn der modernen Naturwissenschaft kann im 17. Jahrhundert verortet werden, ebenso wie die philosophische Moderne; künstlerisch beginnt die »Klassische Moderne« um 1900; die gesellschaftliche und ökonomische Moderne wird häufig auf den Übergang vom 18. ins 19. Jahrhundert datiert, im Zuge der sogenannten industriellen Revolution – wohlgemerkt immer in Bezug auf Europa. All diese Vorstellungen der Moderne, so unterschiedlich sie sein mögen, eint vor allem eins: Die Abgrenzung vom Unmodernen, das wahlweise in früheren Zeiten, aber auch in fernen Landstrichen imaginiert wird.
Die Moderne blickt mit eingeschränktem Sichtfeld umher und verschließt nicht nur vor Problemlagen in vielen Regionen der Welt die Augen, sondern auch vor vielen Lebensrealitäten in Europa. Doch auch die Vorstellung, dass sich ebenjene heilbringende Moderne einfach noch nicht überall durchgesetzt hätte, ist zweifelhaft. Die Geschichte ist kein Drehbuch, das im Hintergrund ein unwahrscheinliches und dennoch befriedigendes Happy End bereithält. Noch darüber hinaus: Es scheint sogar, dass die Moderne durch jenen ausschließenden und selektiven Tunnelblick konstituiert wird, dass sie wenig mehr als eine negative Abgrenzungsbewegung gegen eine Imagination der »Wilden«, der Irrationalen, der Fremden, der Ungebildeten, der Armen und der »Asozialen« ist, die jeweils in einer zeitlichen wie örtlichen Ferne verortet werden.
Denn viele von den als unmodern angesehenen Eigenschaften sind in der Tat Produkte ebenjener Entwicklungen, die unter das Banner der Moderne gestellt werden: Koloniale Sklaverei ist eine Triebfeder, die für die »industrielle Revolution« wohl entscheidender ist, als die Weiterentwicklung der Dampfmaschine. Feministische Emanzipationsbewegungen – heute leuchtendes Sinnbild einer modernen und zivilisierten Gesellschaft – beginnen gegen das vorzugehen, was ebenjene Moderne in den Anfängen der kapitalistischen Produktionsgesellschaft an patriarchaler Unterwerfung hervorbrachte. Die Entwicklung der modernen Naturwissenschaft geht Hand in Hand mit der Entwicklung von Kriegswaffen, mithilfe derer die Welt von Zeit zu Zeit in kolossale Katastrophen gestürzt wird. Die Moderne ist damit nicht einfach eine Befreiungsbewegung, keine Durchsetzung der »guten« Gesetze der Geschichte, sondern gleichzeitig eine Rechtfertigungserzählung der Herrschaft in der »Festung Europa«.
Es ist an der Zeit einzusehen, dass wir uns nicht im letzten Abschnitt einer rationalen Emanzipationsentwicklung befinden. Bestehende Unterdrückungsverhältnisse sind keine Defekte einer ansonsten nach egalitären Kriterien eingerichteten Welt; sie sind immer (noch) systematisch! Soziale und politische Fortschritte entwickeln sich nicht von allein, und die kleinen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts drohen einen erneuten Backlash zu erleben. Ein Geschichtsbild der sich immer weiter entfaltenden Moderne, angetrieben durch eine geheime Hintergrundkraft, hat ihre Chance auf Gegenwehr von vornherein verpasst.
Jan Boesken (er/ihm) hat Philosophie und Kunstgeschichte in Hamburg und Berlin studiert und interessiert sich besonders für gesellschaftliche und politische Themen – insbesondere im Austausch mit Wissenschaft, Geschichte, Moderne und Technik. Derzeit beschäftigt er sich mit dem Verhältnis von Fakten, Identität und Politik.