„Do the impossible, again“ – Streiken als utopische Praxis wiederentdecken

Ich weiß nicht, wie es euch geht – aber für mich klang Streik lange Zeit überhaupt nicht nach Utopie. Ich habe den Eindruck, in Deutschland werden Streiks eher mit zähen Tarifverhandlungen über wenige Prozentpunkte Lohnerhöhung, Verspätungen im Bahnverkehr und alten weißen Männern mit Warnwesten, Schnauzer und Trillerpfeife in Verbindung gebracht. Dabei gehören Streiks zu den wirksamsten Mitteln, um tiefgreifende, scheinbar unmögliche gesellschaftliche Veränderungen zu erkämpfen. Das zeigen nicht nur Streikbewegungen aus der Vergangenheit: Auch heute streiken weltweit gerade die Menschen, die in unserem System besonders brutal marginalisiert und unterdrückt werden. Emanzipatorische Streikbewegungen sind und waren feministisch, anti-rassistisch, anti-kolonial und – gerade deshalb – klassenkämpferisch. Ich will deshalb argumentieren, dass wir das Streiken (fernab von Schnauzer und Trillerpfeife) unbedingt als utopische Praxis wiederentdecken sollten.

Für das langweilige (Zerr-)Bild von Streiks in Deutschland ist nicht zuletzt das deutsche Streikrecht verantwortlich, das wesentlich auf den NS-Juristen Hans Carl Nipperdey zurückgeht. Nipperdey war Mitverfasser des Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit, das (unter anderem) die Mitbestimmungsrechte von Arbeiter*innen im Betrieb vollständig abschaffte. Nach 1945 konnte Nipperdey seine juristische Karriere beinahe ungehindert fortsetzen, wurde erster Präsident des Bundesarbeitsgerichts, Professor an der Universität Köln und angesehener Herausgeber vieler arbeitsrechtlicher Werke. Er nutzte seinen Einfluss, um eine (zumindest im europäischen Vergleich) besonders restriktive Streikrechtsprechung zu etablieren. So wird bis heute jeder Streik, der nicht im Rahmen von Tarifverhandlungen steht, als illegal gehandhabt. Die Teilnahme an solchen Streiks wird damit in der Regel als legitimer Grund für eine fristlose Kündigung vor Gericht bestätigt. Ruft eine Gewerkschaft zu einem „illegalen“ Streik (außerhalb von Tarifverhandlungen) auf, muss sie mit Schadensersatzforderungen seitens des bestreikten Unternehmens rechnen. Darüber hinaus sind die Hürden für politische Streiks, Solidaritätsstreiks und  „wilde“ Streiks (ohne Gewerkschaft) besonders hoch.  

Die Angst vor Streiks, die sich in dieser Rechtsprechung zeigt, ist aus kapitalistischer  Herrschaftsperspektive durchaus nachvollziehbar. Streiks haben sich als eines der wirksamsten Mittel erwiesen, nicht nur bessere Arbeitsbedingungen zu erkämpfen, sondern gesellschaftliche, ökonomische und politische Machtverhältnisse ganz grundsätzlich anzugreifen. 

Was Streiks unter anderem so wirksam macht, ist ihre Fähigkeit, kurzfristig und langfristig Ressourcen umzuverteilen. In dem Moment, in dem wir unsere Arbeit niederlegen, entziehen wir unmittelbar dem System, das wir verändern wollen, Ressourcen. Solange wir streiken trägt unsere Arbeitskraft nicht dazu bei, die Profite eines Bosses zu mehren, die Herrschaft eines Staates am Laufen zu halten, oder die reproduktiven Bedürfnisse eines Beziehungsmenschen zu befriedigen. Wenn wir es schaffen, unsere Forderungen durchzusetzen, haben wir uns damit außerdem neue Ressourcen und Freiräume erkämpft, die uns langfristig nicht nur ein besseres Leben, sondern auch neue Kämpfe ermöglichen. Streiks können also unmittelbaren, kurzfristigen Nutzen mit einer langfristigen Strategie verbinden; und damit eine konkrete, hoffnungsvolle, kämpferische Perspektive auf die Zukunft eröffnen. Diese Art von Streiks würde ich deshalb als utopische Praxis bezeichnen. Und diese Praxis müssen wir nicht “neu” erfinden – wir können sie wiederentdecken. Denn es gibt viele historische Beispiele utopischer Streiks, die eine radikal andere Zukunft erkämpft haben: Eine Zukunft, die in ihrer Zeit unmöglich erschien- und die wir jetzt als unsere selbstverständliche Gegenwart erleben. 

Zu den eindrücklichsten historischen Beispielen für das emanzipatorische Potenzial von Streikpraktiken zählen wahrscheinlich der „Match Girl’s Strike“ in London (UK) 1888 und der Frauenstreik in Sankt Petersburg (RUS) 1917. Die so genannten „Match Girls“ („Streichholzmädchen“) waren Frauen und Mädchen, die unter extrem prekären und gefährlichen Bedingungen Streichhölzer herstellten. Nach einem erfolglosen Streik im Jahr 1885 bei der Firma Bryant&May wurden die dortigen Arbeitsbedingungen 1888 von der Fabian Society untersucht und öffentlich angeprangert. Daraufhin kündigte Bryant&May mehreren Arbeiterinnen, die sie verdächtigten, Informationen weitergegeben zu haben. In der Folge weiterer Proteste und Kündigungen traten schließlich alle 14.000 „Streichholzmädchen“ in London in den Streik. Sie sicherten sich damit nicht nur würdevollere Arbeitsbedingungen, sondern zündeten den  Funke für eine ganze Gewerkschaftsbewegung . In Sankt Petersburg (RUS)  legten Textilarbeiterinnen am 8. März 1917 die Arbeit nieder, um gegen die Brotknappheit zu protestieren. In den folgenden Tagen schlossen sich ihnen über 150.000 weitere Arbeiter*innen an. Dieser Streik und die von ihm ausgelösten Proteste führten letztlich zum Sturz des Zaren und gelten damit als Vorläufer der Russischen Revolution.

Natürlich sind derartig drastische Folgen von Streiks eher die Ausnahme als die Regel und hängen von vielen weiteren historischen, politischen und sozio-ökonomischen  Umständen ab. Viel häufiger kommt es vor, dass Streikende ihre Forderungen zunächst überhaupt nicht oder nur teilweise durchsetzen können. Jedoch lassen sich gerade auch in diesen Fällen oft langfristige Wirkungen erkennen.

Ein Beispiel ist der Streik der Tabakarbeiter*innen in Ghaziyya (Libanon) 1970-71. Die Arbeiterinnen wehrten sich nicht nur gegen temporäre Arbeitsverträge, sondern gleichzeitig gegen sexuelle Belästigung und patriarchale Unterdrückung innerhalb wie außerhalb des Arbeitsplatzes. Erst 1980 – fast zehn Jahre später – konnten sie ihre Forderung nach dauerhaften Arbeitsverhältnissen durchzusetzen. Und in Grunwick (UK) streikten 1976 überwiegend aus Südasien stammende Arbeiterinnen, um sich gegen verpflichtende Überstunden und rassistische Erniedrigungen zu wehren. Obwohl sie letztendlich keine ihrer Forderungen durchsetzen konnten und von der Britischen Gewerkschaftsbewegung im Stich gelassen wurden, haben sie es geschafft, das Bild und die Situation von migrantischen Arbeiterinnen nachhaltig zu verändern. Wie Jayaben Desai (eine der Initiatorinnen des Streiks) Jahre später bemerkte: „… wegen uns haben diejenigen, die weiter in Grunwick arbeiten, einen viel besseren Deal bekommen… Kannst du dir das vorstellen? Die kriegen heute eine Rente! Und wir kriegen gar nichts. Das war wegen uns, wegen unseres Kampfs.“

Auch wenn Streiks also ihre unmittelbaren Ziele (zunächst) verfehlen, können sie die Voraussetzungen für zukünftige, erfolgreiche Kämpfe schaffen und (andere) Bewegungen über eine zeitliche Dimension hinweg beeinflussen.

Eine weitere langfristige Folge von Streiks sind die Beziehungen und Strukturen, die vor und während Streikaktionen entstehen. Um einen Streik auf die Beine zu stellen, ist eine Menge Organisationsarbeit nötig. Menschen müssen zum Beispiel mit Kolleg*innen reden und Wege finden, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Streikende müssen sich darauf einigen, wofür und wie sie streiken wollen. Sie brauchen eine Strategie, müssen sich aufeinander verlassen können und auf Repressionen vorbereitet sein. Dabei arbeiten die bestehenden Strukturen gegen sie. Wenn Bosse von Streikplänen erfahren, versuchen sie meistens ganz gezielt, diese zu sabotieren. Aber auch grundsätzlich müssen Arbeiter*innen Vereinzelung, Spaltung und die sehr reale Angst vor dem Verlust ihrer Existenzgrundlage überwinden, um zu streiken. In einem Umfeld, das darauf ausgelegt ist, verschiedene unterdrückte Gruppen gegeneinander auszuspielen und in ein Konkurrenzverhältnis zu zwingen, müssen sie solidarische Entscheidungs- und Handlungsprozesse neu entwickeln oder wieder lernen. Dabei war es in der Vergangenheit oft nötig, bereits bestehende Gewerkschaftsstrukturen zu verändern oder neue zu schaffen. So hielten die frühen Gewerkschaften in Großbritannien die „Streichholzmädchen“ für schlicht nicht organisierbar; nach ihrem erfolgreichen Streik gründeten diese daraufhin ihre eigene Gewerkschaft, die Union of Women Matchmakers. Auch die indigenen Arbeiter*innen der Wave Hill Station schafften es letztlich trotz des strukturellen Rassismus der Australischen Gesellschaft, gerade auch in der Arbeiter*innenbewegung, sich selbst neu zu organisieren und   eine breite Unterstützung für ihren Streik zu mobilisieren. Neun Jahre lang streikten sie nicht nur für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen, sondern vor allem für ihr Recht auf das Land, von dem sie fast 100 Jahre zuvor brutal vertrieben worden waren. 1975 gewannen sie einen Teil ihres Landes zurück; ein Jahr später wurde der „Aboriginal Land Rights (Northern Territory) Act“ verabschiedet. Zum ersten Mal wurden darin in Australien die Rechte von Indigenen Völkern auf ihr Land, ihre Sprache, Kultur und Rechtsprechung gesetzlich anerkannt. Sie haben sich also unter anderem Lebensraum und juristische Ressourcen erkämpft, die dem leider bis heute nötigen Widerstand gegen die Unterdrückung und Ausbeutung von Indigenen vorher nicht zur Verfügung standen.

Auch für den Widerstand gegen die Spaltung von Arbeiter*innen durch nationale Grenzen gibt es inspirierende Beispiele. So folgten etwa im September 1945 Australische Arbeiter*innen dem Aufruf Indonesischer Gewerkschaften, Niederländische Handelsrouten zu boykottieren, nachdem die Niederlande die Indonesische Unabhängigkeitserklärung nicht anerkennen wollte. Neun Monate lang weigerten sich Hafenarbeiter*innen aus Indonesien, Indien, Australien und über 14 anderen Ländern, auf Niederländischen Schiffen zu arbeiten und damit den Versuch der gewaltvollen Rekolonialisierung Indonesiens zu unterstützen. Oder die Dunnes Store Arbeiter*innen in Dublin (Irland), die sich ab 1984 weigerten, aus dem Apartheidsregime in Südafrika importierte Waren zu verkaufen. Nicht zuletzt dank der Unterstützung Desmond Tutus konnten sie die Irische Regierung schließlich dazu bringen 1987 (als erste „westliche“ Regierung) ein vollständiges Verbot für den Import von Waren aus Südafrika auszusprechen. Nicht nur auf einer zeitlichen Achse, sondern auch räumlich können Streikbewegungen einander also unterstützen, beeinflussen und verstärken.

Vielleicht (noch) weniger greifbar, aber meiner Meinung nach nicht weniger wichtig ist die emotionale Wirkung von Streikaktionen. Auch in Fällen vermeintlich erfolgloser Streiks haben die Beteiligten die Erfahrung gemacht, dass sie weder alleine sind mit ihrer Unzufriedenheit und ihrer Wut, noch ohnmächtig, etwas gegen ihre Ausbeutung zu unternehmen. Stattdessen haben sie erfahren, welche Macht darin steckt, „einfach nur“ gemeinsam ihre Arbeitskraft zurückzuhalten. Und sie haben erlebt, dass es möglich ist, selbstbestimmt und solidarisch zu handeln und gemeinsam Forderungen zu stellen. In dieser Praxis blitzen Vorstellungen einer radikal anderen Zukunft auf: Bruchstückhafte Bilder anderer Formen des Umgangs miteinander, anderer Formen des Zusammenlebens. Das sind keine Utopien im „klassischen“ Sinne, also keine klar umrissenen Vorstellungen der „perfekten“ Gesellschaft. Es sind vielmehr Anregungen, affektive Vorahnungen davon, wie es sich anfühlen könnte, in einer herrschaftsfrei(er)en Gesellschaft zu leben. Dabei will ich überhaupt nicht kleinreden, wie viel Frust und (berechtigte!) Angst mit Streikbewegungen verbunden ist. Streikende müssen nicht nur den Verlust ihrer ohnehin meist prekären Lebensgrundlage befürchten; sie werden regelmäßig angegriffen, terrorisiert, eingesperrt oder auf andere Weise für ihren Widerstand bestraft. Es liegt auch in diesen sehr realen Risiken, dass in der Regel gerade die Menschen Streikbewegungen organisieren, die wenig andere Möglichkeiten zur Verfügung haben, ihre grundlegenden Rechte durchzusetzen. Nichtsdestotrotz bin ich überzeugt, dass Existenz und  Erfolg von Streikbewegungen nicht nur auf existenzielle Not, sondern auch auf die Hoffnung zurückzuführen sind, die uns gemeinsame Kämpfe machen (können). Ohne die Hoffnung auf eine andere Zukunft, würde ich jedenfalls behaupten, hätten zum Beispiel die mutigen Streikenden in Ghaziyya nicht 10 Jahre durchhalten können, bis sie ihre Ziele erreicht haben. 

Es gibt nicht nur mehr als genug Gründe, an diese hoffnungsvollen Beispiele anzuknüpfen; es gibt auch Menschen, die das bereits tun. Wir können auch heute sehen, wie sich Arbeiter*innen zusammen tun, die aufgrund ihrer enormen Prekarisierung oder ihres „untypischen“ Arbeitskampfs vielen großen Gewerkschaften als „unorganisierbar“ gelten. So streiken jährlich zum 8. März in inzwischen über 56 Ländern FLINTA* Personen gegen die Ausbeutung unserer Arbeitskraft und unserer Körper. Und die Arbeiter*innen des Essenslieferdiensts Gorillas haben in Berlin im vergangenen Jahr mehrmals „wild“ gestreikt. Einige von Ihnen wehren sich nun vor Gericht gegen ihre daraufhin erfolgte Kündigung – und greifen dabei explizit das restriktive deutsche Streikrecht an. Das Gorillas Workers Collective ist nur eine von vielen Gruppen von Lieferarbeiter*innen, die sich seit einigen   Jahren weltweit selbst organisieren und für menschenwürdige(re) Arbeitsbedingungen in dieser Branche kämpfen. Einige von ihnen haben es jetzt schon geschafft, einzelne Bedingungen zu verbessern und viel öffentliches Bewusstsein für ihre Kämpfe zu schaffen. Wieder machen sie dabei eine Perspektive auf grundlegende Veränderungen auf. Und wieder sind es in mehrfacher Hinsicht prekarisierte Arbeiter*innen, die mutig genug sind, für grundlegende Veränderungen zu kämpfen. Sie greifen damit die bisher skizzierte Geschichte von Streiks als feministischer, anti-rassistischer, anti-patriarchaler und utopischer Praxis wieder auf und beleben sie neu. Wenn sie genug Unterstützung bekommen und es schaffen, zum Beispiel eine Änderung des deutschen Streikrechts zu erkämpfen, hätten wir alle wesentliche neue Ressourcen im Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung gewonnen. Stellt euch mal vor! Was dann alles möglich wäre…

Inspiration: 

Ich habe mich vor einigen Jahren selbst in  Berlin gemeinsam mit meinen damaligen Kolleg*innen bei Foodora und Deliveroo organisiert. Auch, wenn wir damals kaum konkrete, greifbare Verbesserungen unserer Arbeitsbedingungen erkämpfen konnten, hoffe ich, dass wir die jetzigen Kämpfe von Lieferarbeiter*innen positiv beeinflusst haben. Unter anderem haben wir damals angefangen, uns international mit anderen Kollektiven, Gewerkschaften und Gruppen zu vernetzen. 

Georgia Palmer ist 1992 in Berlin geboren und aufgewachsen. Nach dem Abitur hat sie hauptsächlich Philosophie in Berlin und Barcelona studiert. Über ihren damaligen Job bei Foodora ist sie 2017 zur FAU gekommen und hat ein internationales Netzwerk für bessere Arbeitsbedingungen bei Essenslieferdiensten mit aufgebaut. Im Moment beteiligt sie sich an Planungen für einen intersektional feministischen Streik.