Libanon: Ein Land der Widersprüche

 „Wer glaubt, er habe den Libanon verstanden, dem hat man ihn nicht richtig erklärt“, lautet ein berühmtes libanesisches Sprichwort. Denn was heute gilt, könnte schon morgen wieder anders sein.  Libanon ist ein Land geprägt von Widersprüchen, traditionell und modern, vermeintlich zersplittert entlang religiöser Linien und doch säkular, mit einer Hauptstadt, die sich jung und kraftvoll ans östliche Mittelmeer schmiegt und die einst für 15 Jahre geteilt war, wie Berlin, nur ohne Mauer. Ein Land, das erst gerade wieder Krieg, Tod und Zerstörung erlebt hat.

Mit dem Zerfall des Osmanischen Reichs nach dem Ersten Weltkrieg gelangt das Gebiet des heutigen Libanon unter französische Kontrolle. 1916 hatten sich Großbritannien und Frankreich im geheimen Sykes-Picot-Abkommen über die Aufteilung des Nahen Ostens verständigt. Frankreich proklamiert 1920   schließlich einen Großlibanon mit erweiterten Grenzen, die auch ehemals muslimisch geprägte Küstenstädte und das Bekaa-Tal umfassen. Entsprechend religiös und ethnisch divers ist das Mandatsgebiet. Maronit:innen, Schiit:innen, Sunnit:innen, Drus:innen und viele mehr leben auf einer Fläche halb so groß wie Hessen. Insgesamt gibt es 18 anerkannte Religionsgemeinschaften.

Gleiche Voraussetzungen genießen sie nie. Frankreich bevorzugt die christlich-maronitische Elite, was früh zu Spannungen führt. 1943 wird der Libanon unabhängig. Grundlage ist der Nationalpakt, ein informelles Abkommen zwischen christlichen und muslimischen Führern: Der Präsident soll Maronit sein, der Premierminister Sunnit, der Parlamentspräsident Schiit. Die Sitzverteilung im Parlament erfolgt im Verhältnis 6:5 zugunsten der Christ:innen. Die Hoffnung, so für Ausgleich zu sorgen, erfüllt sich nicht. Stattdessen verfestigt sich ein System aus Sektierertum und Proporz. Die Gesellschaft, obwohl eher säkular, bleibt entlang religiöser Linien zerklüftet. Auch heute, da sich längst so etwas wie eine libanesische Identität herausgebildet hat, versuchen politische Führer über alle Lager hinweg immer wieder, diese zu torpedieren.

Am 13. April 1975 überfallen rechte christliche Milizionäre einen Bus mit palästinensischen Zivilist:innen und töten 27 Männer, Frauen und Kinder. Es ist der Auftakt zu einem 15 Jahre währenden Bürgerkrieg, der sich nur grob in Kämpfe zwischen linken palästinensisch-muslimischen und rechten christlichen Allianzen unterteilen lässt. Die Realität ist komplexer und wird es zusehends, als 1976 Syrien und im Juni 1982 Israel im Libanon einmarschieren. Im Zuge der israelischen Invasion gründet sich die Hisbollah. Enttäuscht vom zögerlichen Verhalten der Amal-Partei, der ersten schiitischen Partei des Landes, wird sie zur einzigen glaubwürdigen Widerstandsbewegung gegen Israel. Trotz enger finanzieller und ideologischer Beziehungen zu Iran versteht sich die Hisbollah als libanesische Bewegung, die auf dem Boden kämpft, den sie verteidigt.

Mit dem Ta‘if-Abkommen von 1989, das den Bürgerkrieg beendet, werden Milizen zu Parteien, Warlords zu Parteivorsitzenden. Der Krieg wird nie aufgearbeitet. Bis auf die Hisbollah werden alle Milizen entwaffnet, sie behält ihre Waffen, für den „Widerstand gegen Israel“. Bis 2000 besetzt Israel den Süden Libanons, der Rückzug wird von der Hisbollah als ihr erster großer Sieg gefeiert. Ihren politischen Einfluss baut sie weit über die schiitische Gemeinschaft hinaus aus.

Die Nachkriegsordnung im Libanon bleibt instabil, dominiert von konfessionellen Klientelnetzwerken. Die syrische Kontrolle über das Land ist politisch und sicherheitspolitisch umfassend. Erst nach dem Attentat auf Premier Rafik Hariri 2005 und massiven Protesten der sogenannten Zedernrevolution ziehen die syrischen Truppen ab.

Nur ein Jahr später erschüttert ein neuer Krieg das Land. Die Entführung zweier israelischer Soldaten nimmt Israel zum Anlass für eine massive Offensive gegen die Hisbollah. Große Teile des Südlibanon und Beiruts werden zerstört, über 1200 Zivilist:innen sterben. Dass Israel nach einem Monat im Angesicht hoher eigener Verluste abziehen muss, ohne seine Ziele erreicht zu haben, ist der größte Triumph in der Geschichte der Hisbollah. Ihre Position wird fester denn je.

Im Oktober 2019 entzündet eine geplante WhatsApp-Steuer Massenproteste. Hunderttausende demonstrieren gegen Korruption und Vetternwirtschaft, fordern soziale Reformen und erstmals den Sturz des konfessionellen Systems in seiner Gesamtheit. Premier Saad Hariri tritt zurück, es folgt Hassan Diab, der zu Beginn der Corona-Pandemie im Februar 2020 erstmals ankündigt, der Libanon sei nicht mehr in der Lage, seine Schulden zu begleichen. Das Land wird für Pleite erklärt und zum Fall für den Internationalen Währungsfonds (IWF). Corona verschärft die Krise weiter und lähmt gleichzeitig die Proteste von 2019, die ihr Momentum einbüßen.

Am 4. August 2020 explodieren 2.750 Tonnen unsachgemäß gelagertes Ammoniumnitrat im Hafen von Beirut. Über 230 Tote, eine verwüstete Stadt. Es ist eine der schwersten nicht-nuklearen Explosionen der Geschichte und Symbol für den kollabierten Staat. Korruption und Misswirtschaft, die bis in den Hafen reichten, fliegen dem Land buchstäblich um die Ohren. Die Regierung tritt geschlossen zurück; für die kommenden Jahre wird jede Regierung, auch nach den Wahlen im Mai 2022, nur noch geschäftsführend im Amt sein.

Die Währung verliert bis zu 95 % ihres Werts, über 80 % der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Eine Massenabwanderung setzt ein, vor allem Junge und Gebildete verlassen das Land. Selbst die sonst so patriotischen Libanes:innen trauen ihrem Land einen Wandel nicht mehr zu.

Mit dem Hamas-Überfall auf Israel am 7. Oktober 2023 beginnt das jüngste Kapitel in der Geschichte des Libanon: Nach knapp einem Jahr Scharmützel zwischen Hisbollah und den Israel Defense Forces (IDF), die hauptsächlich im Süden des Landes eingehegt blieben, erweitert Israel den Krieg zunächst im Sommer 2024 schrittweise, dann umfassend ab Mitte September auf weite Teile des Libanon sowie auf Beirut. Am 27. September wird der langjährige Hisbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah bei einem israelischen Luftangriff getötet. Anfang Oktober startet Israel eine Bodenoffensive im Südlibanon.

Fast 4.000 Libanes:innen sterben, über eine Million werden vertrieben. Ein von den USA vermittelter Waffenstillstand tritt am 27. November 2024 in Kraft. Die Vereinbarung sieht vor, dass die Hisbollah ihre Kämpfer nördlich des Litani-Flusses zurück-, Israel seine Truppen aus dem Südlibanon abzieht. Doch die Lage bleibt angespannt; wann immer die IDF Bewegungen der Hisbollah vermutet, überzieht sie das Land weiterhin mit Luftangriffen.

Am 9. Januar 2025 wird Joseph Aoun, ehemaliger Armeechef, zum Präsidenten gewählt. In seiner Antrittsrede kündigt er an, gegen Korruption, Armut und konfessionelle Spaltungen vorzugehen. Kurz darauf ernennt er Nawaf Salam, den Präsidenten des Internationalen Gerichtshofs, zum Premier. Viele führen diese politischen Entwicklungen auf die zuvor nie dagewesene Schwächung der Hisbollah zurück. Eine klare Antwort auf das, was jetzt kommt, ergibt sich daraus indes nicht. Der Konflikt mit Israel bleibt. Die Klientelpolitik und die „Demokratisierung der Korruption“, wie sie dem Libanon einst beschieden wurde, muss bekämpft werden. Der Libanon bleibt das Land der Widersprüche: verletzlich und zäh, harsch und wunderschön, mit so viel Potenzial und doch wenig Hoffnung. Ein Land, das viele Menschen forttreibt – und sie doch nie loslässt.