Ein halbes Jahr nach dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine reist die mediale Berichterstattung vom Kriegsschauplatz nicht ab – doch um den Antikriegswiderstand in Russland ist es stiller geworden. Dies erklärt sich daraus, dass keine großen spektakulären Massenaktionen, wie zu Beginn des Krieges, mehr stattfinden. Dennoch ist der Widerstand nicht abgebrochen, sondern hat nur seine Form gewechselt. Das zeigt ein Blick auf die Berichterstattung in lokalen russischen Medien, insbesondere aber in den verschiedenen Medienformaten der russischen Opposition. Diskussionen und Nachrichten in zahlreichen Telegramkanälen von Aktivist:innen vor Ort, die in den letzten Wochen und Monaten wie Pilze aus dem Boden geschossen sind [1], bieten Einblicke in die Antikriegsbewegung in Russland.
Proteste zu Beginn des Krieges
Wie bereits angedeutet, lassen sich zwei Phasen der Antikriegsbewegung in Russland ausmachen. Die erste setzte unmittelbar mit Kriegsbeginn am 24. Februar ein. Nach übereinstimmenden Berichten reagierte ein großer Teil der russischen Bevölkerung schockiert.[2] Bereits am Abend des ersten Kriegstages versammelten sich Protestierende in Sankt Petersburg und skandierten „Нет войне“ (Nein zum Krieg), was zur zentralen Parole der Antikriegsbewegung werden sollte.
In den folgenden Wochen riefen russische Oppositionsgruppen zunächst jeden Abend, dann an den Wochenenden, zu Kundgebungen und Demonstrationen auf. Ihren Höhepunkt erreichten diese am 6. März, als in mehreren Städten des Landes tausende Menschen auf die Straße gingen. Verschiedene Berufsgruppen, meist aus dem akademischen und kulturellen Bereich, erklärten sich in Petitionen gegen den Krieg, auch prominente Künstler:innen und sogar hochrangige Politiker taten dies. Die Kriegsgegner konnten sich so in den ersten Kriegstagen lautstark Gehör verschaffen, was auch von „westlichen“ Medien registriert wurde.
Allerdings setzte schon bald die staatliche Repression ein. Die Duma erließ Gesetzesverschärfungen, die etwa für „Falschinformationen über die Armee“ bis zu 15 Jahren Haft androhen. Darunter fällt alles, was dem offiziellen Narrativ, das von einer „militärischen Spezialoperation“, statt von einem Krieg spricht, widerspricht. Protestierende wurden von der Polizei verhaftet, Kundgebungsplätze abgeriegelt, sodass es immer schwieriger wurde sich öffentlich zu versammeln. Bis Anfang April brach der Straßenprotest daher ein. Oppositionelle Medien, wie der Fernsehsender „Doschd TV“ oder der Radiosender „Echo Moskwy“, wurden abgeschaltet, auch Internetseiten und Social Media Kanäle blockiert oder eingeschränkt. Gleichzeitig organisierte der Staat große orchestrierte Massenveranstaltungen zur Unterstützung des Krieges, wie am 18. März, dem Tag der Krimannexion. Der aus dem lateinischen Alphabet entnommene Buchstabe „Z“ wurde als Symbol der Kriegsunterstützung verbreitet und er findet sich bis heute an den Fassaden vieler öffentlicher Einrichtungen und auf amtlichen Werbeplakaten im Straßenbild. In der Antikriegsbewegung breitete sich dagegen Desillusionierung und auch Panik ob einer erwarteten Faschisierung der Gesellschaft aus. Anfang März setzte eine Ausreisewelle ein. Schätzungen zufolge haben 200.000 — 300.000 Menschen das Land seitdem verlassen, die meisten in die postsowjetischen Anrainerstaaten.[3]
Seitdem hat sich das Bild einer russischen Gesellschaft durchgesetzt, auch gestützt durch Umfragen,[4] die mehrheitlich hinter dem Kriegskurs der politischen Führung steht. Wie einige Beobachter hervorheben,[5] handelt es sich dabei aber eher um eine passive Akzeptanz, die dem anfänglichen Schock gewichen ist, weniger um aktive Kriegsbegeisterung. Die staatliche Propaganda zielt stärker auf Entpolitisierung als auf Mobilisierung. Das wird am Narrativ der „Spezialoperation“ deutlich, das eine Kontinuität zur Vorkriegszeit suggeriert und es erleichtert, die Realität eines ausgewachsenen Krieges mit seinen verheerenden Konsequenzen zu verdrängen. Rückkehrer aus dem Exil berichten, dass sie, anders als erwartet, nicht auf patriotische Massen mit „Z“-Symbolen treffen, sondern auf eine angespannte gesellschaftliche Stimmung, in der die Meisten es vermeiden über den Krieg zu reden oder sich damit zu beschäftigen.[6] Zudem zeigen selbst Umfragen, in denen eine Mehrheit den Krieg unterstützt, dass die Zustimmung bei Menschen mit niedrigerem Einkommen, die sich größere Sorgen um die wirtschaftlichen Folgen machen, abnimmt.[7] Das ist insofern bemerkenswert, als sich der anfängliche Protest vor allem aus der liberalen Mittelschicht der großen Städte speiste.
Versteckter Widerstand
Doch der Antikriegswiderstand wurde durch die Repressionen keineswegs komplett unterdrückt, sondern er ist in eine neue Phase eingetreten. Offener Protest ist verstecktem Widerstand gewichen, auch wenn immer noch kleinere Kundgebungen und Einzelaktionen auf der Straße stattfinden. Doch zumeist agieren Aktivist:innen nun im Verborgenen: Graffitis oder Nachrichten mit Antikriegsbotschaften werden heimlich hinterlassen, kleine Denkmäler an die Opfer in der Ukraine in Hinterhöfen und auf öffentlichen Plätzen errichtet, Objekte der Kriegspropaganda zerstört und beschädigt. Dabei sind gemeinsame Parolen und Symbole als Zeichen der Ablehnung des Krieges entstanden. Sie durchbrechen und konterkarieren den staatlichen Diskurs im öffentlichen Raum: allen voran das bekannte „Nein zum Krieg“, grüne Bänder und die weiß-blau-weiße Fahne, die mittlerweile zur Fahne der Antikriegsopposition anvanciert ist.[8]
Hinter den Aktionen steht keine zentrale Organisation oder Leitung. Die Aktivist:innen sind vielmehr meist lokal und horizontal über Telegramgruppen vernetzt. In den Gruppen werden Informationen und Erfahrungen, Fotos von Aktionen sowie Ideen für Aktionsformen und Ratschläge für ihre erfolgreiche Durchführung ausgetauscht. Es handelt sich dabei um eine Graswurzelbewegung, die sich im gesamten Land ausgebreitet hat, unabhängig von Region und Größe der Ortschaft. Auch agiert sie unabhängig von den liberal dominierten Oppositionsgruppen im Ausland.[9]
Eine wichtige Rolle spielen meist erst in jüngerer Zeit entstandene Organisationen und Gruppierungen, wie der „Feministische Widerstand gegen den Krieg“ oder Schüler- und Studierendengruppen, aber auch Initiativen aus dem Umfeld der anarchistischen und antiautoritären Linken. Viele Liberale, die die Protestbewegungen in der Vergangenheit angeführt haben, sind dagegen ins Exil gegangen.[10] Interessant ist in diesem Zusammenhang auch das Entstehen von Vernetzungen und Organisationen ethnischer Minderheiten, die sich gegen den Krieg aussprechen und ihre eigene Diskriminierung skandalisieren. In der Vergangenheit hatte die Opposition in Russland die Anliegen kleinerer Volksgruppen weitgehend ignoriert, zum Teil zeigte sie selbst chauvinistische Züge. Dass sie nun aktiv werden, spricht neben einer stärkeren regionalen und sozialen Durchdringung auch für eine größere Pluralität der Antikriegsbewegung.
Sabotage und Anschläge als Widerstand
Zugleich radikalisiert sich der Widerstand. Neben den bereits genannten, eher der Kategorie „Vandalismus“ zuzuordnenden Aktionen, nehmen auch Sabotage und Anschläge zu. Seit Kriegsbeginn wurden mindestens 23 Büros der Einberufungsbehörden angegriffen, 20 davon mit Brandsätzen, meist Molotowcocktails. Auch Polizeistationen und solche der Rosgwardija, der Putin direkt unterstellten Nationalgarde, waren Ziele von Attacken. Zudem sind klandestine Gruppen entstanden, die Sabotage an der Eisenbahninfrastruktur verüben, um den Transport von Militärgütern zum Erliegen zu bringen. Von März bis Juni diesen Jahres sind insgesamt 63 Güterzüge entgleist, anderthalb mal soviel wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres.[11]
Sind solche Fälle meist eindeutig Antikriegsaktivist:innen zuordenbar, so sorgt ein weiteres Phänomen für Aufsehen, wo dies nicht so einfach ist. Seit Ende April steigt die Zahl von Bränden, meist in Industrieanlagen, aber auch in Militäreinrichtungen sowie Einrichtungen der Öl- und Gasinfrastruktur. In einigen Fällen gehen auch die Behörden von Brandstiftung aus, jedoch ist unklar, von wem sie verübt werden. Die Spekulationen reichen von ukrainischen Spezialeinheiten (wobei dies aufgrund der geographischen Verbreitung unwahrscheinlich ist), über die „Legion Freies Russland“[12] bis hin zu oppositionellen Akteuren aus den russischen Sicherheitsapparaten, aufgrund der Teils sensiblen Bereiche, die davon betroffen sind. Konkrete Hinweise gibt es jedoch keine. Dass diese Ereignisse auch einen quantitativen Effekt haben, zeigt eine Statistik aus der Region Amur. Demnach gab es dort dieses Jahr 10 Prozent mehr Brände, die aber einen achtmal höheren Schaden anrichteten. Dabei waren weniger Wohngebäude betroffen und es gab weniger Personenschäden. Das legt nahe, dass es dieses Jahr vermehrt in Industrieanlagen und Einrichtungen der Infrastruktur gebrannt hat.[13] Vermutlich handelt es sich auch bei diesen Sabotageakten und Anschlägen auf Infrastruktur nicht um einen, sondern um mehrere verschiedene Akteure.
Der russische Antikriegswiderstand ist also nicht nur nicht abgebrochen, sondern er hat sehr unterschiedliche und in die Gesellschaft diffundierte Formen angenommen: von friedlichen Mahnwachen, über Aktivitäten des Gegendiskurses sowohl im öffentlichen als auch medialen (vor allem digitalen) Raum, bis hin zu militanten Aktionen, wie Sabotage und Brandanschlägen. Jüngst gab es sogar den ersten Fall eines bewaffneten Überfalls auf eine Militäreinrichtung. Wie der Widerstand sich weiterentwickeln wird, ist schwer zu prognostizieren, zumal aus der Ferne. Sicherlich hängt viel vom Kriegsverlauf ab, aber auch wie sehr die passive Akzeptanz großer Teile der Bevölkerung einer stärkeren Infragestellung der Kriegspropaganda zu weichen beginnt. Erste Anzeichen lassen sich zumindest ausmachen. Nicht zuletzt die Aktivitäten der Antikriegsbewegung tragen ihren Teil dazu bei.
[1] Dieser Artikel konzentriert sich auf die aktuelle Antikriegsbewegung in Russland. Für eine Einschätzung und Analyse der Hintergründe des Krieges sowie der sozialen Klassenverhältnisse in Russland siehe den Blogartikel Was geht eigentlich ab in Russland, April 2022, auf: www.blog.interventionistische-linke.org
[2] Alexey Sakhnin: What is happening to the Russian consciousness? auf: www.nowarleft.com
[3] Olga Gulina: Umgekehrte Migration: Russland wird zum Auswanderungsland in Eurasien, 23. März 2022, auf: www.euractiv.de
[4] Umfragen in Russland sind politischer Manipulation unterworfen. Zudem antworten die meisten Menschen nicht, zumal wenn sie eine abweichende Meinung haben. Das hat seit Beginn des Krieges noch zugenommen. Daher dienen sie eher der Manipulation der Öffentlichkeit als dazu, ein repräsentatives Bild der Meinungen im Land zu liefern. Siehe auch Katya Arenina: Unnatural Numbers. A story on how sociologists made Russians love Putin and the war in Ukraine, 07. Juli 2022, auf: www.proekt.media/en
[5] Alexey Sakhnin: What is happening to the Russian consciousness? auf: www.nowarleft.com
[6] Siehe dazu Mikhail Zygar: Warum Berlin nicht die Hauptstadt der Exilrussen wird, 29.05.2022, auf: www.spiegel.de
[7] Alexey Sakhnin: What is happening to the Russian consciousness? auf: www.nowarleft.com
[8] Kriegsgegner hatten zu Beginn des Krieges beklagt, sie könnten sich nicht mehr mit der russischen Nationalfahne identifizieren, woraufhin das Rot, das sie an Blutvergießen und Krieg erinnerte, durch ein harmonischeres Weiß ersetzt wurde. Siehe dazu www.whitebluewhite.info/english
[9] Dies geht aus einer Analyse von 56 Telegramgruppen durch Antikriegsaktivist:innen selbst hervor, zu finden im Telegramchannel Antiwarriors
[10] Katja Woronina: Mit Wahllisten gegen den Kreml, in: analyse & kritik, Nr. 683, 14.6.2022, S. 21.
[11] Alisa Zemlyanskaya: This train is on fire: how Russian partisans set fire to military registration and enlistment offices and derail trains, 06. Juli 2022 auf: www.theins.ru/en
[12] Hierbei handelt es sich um eine Einheit aus ehemaligen russischen Militärangehörigen, die auf Seiten der Ukraine kämpft, aber auch eine größer werdende Anhängerschaft in Russland selbst besitzt. Siehe auch Moritz Eichhorn: Russische Soldaten gegen Putin. Im Donbass kämpfen, im Moskau Feuer legen, 04. Mai 2022, auf: www.berliner-zeitung.de
[13] Амурской области пожары стали обходиться в 8 раз дороже. В МЧС подвели итоги за пять месяцев этого года, auf: www.amur.info