Der russische Aggressionskrieg gegen die Ukraine wirft global Fragen um (inter)nationale Strafgerichtsbarkeit und den Umgang mit Völkerrechtsbrüchen auf. Im Gespräch mit Professorin Stefanie Bock hat die UNEINS Redaktion Zusammenhänge geklärt.
Frau Bock, Sie sind Professorin für internationales Strafrecht. Was ist das Anliegen und das Ziel internationaler Strafgerichtsbarkeit?
Die Grundidee der internationalen Strafgerichtsbarkeit ist der Gedanke, dass es nicht sein kann, dass wir auf nationaler Ebene Täter für kleine Verbrechen verfolgen, während wir Gewalt und Aggression großen Ausmaßes ungesühnt lassen und strafrechtlich davor kapitulieren. Die Verfolgung staatlicher Makroverbrechen ist ein zentrales Gebot der Gerechtigkeit und damit auch und vor allem eine Maßnahme, Opfern von Gewalttaten Gerechtigkeit zu bringen. Das bedeutet natürlich nicht, dass man das Leid in irgendeiner Form wiedergutmachen kann. Aber es ist immerhin eine Form von Opferanerkennung. Durch die Individualisierung von Schuld in einem Strafprozess werden Verantwortungen klar zugewiesen. So wird auch den Opfern deutlich gemacht: Was euch passiert ist, war Unrecht und wir stehen auf eurer Seite. Dieser Akt der Solidarisierung mit den Opfern ist hilfreich, damit die Gesellschaft als solche die Verbrechen verarbeiten und sich weiterentwickeln kann. Die Anerkennung von Opfern, die Zuschreibung von Verantwortung und die Ermittlung der Wahrheit sind wichtige Schritte auf dem Weg zu einer friedlicheren Zukunft. Das gilt insbesondere in Kontexten, in denen Gewalt zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen stattgefunden hat. Die unterschiedlichen Arten, wie diese Aufarbeitung geschehen kann – etwa Wahrheitskommissionen, Tribunale oder eben internationale Strafgerichtsbarkeit – werden unter dem Begriff der Transitional Justice zusammen gefasst.
Können Sie die Möglichkeiten internationaler Strafverfolgung am Beispiel des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) und im Fall der Ukraine erläutern?
Sehr gerne. Das Völkerstrafrecht ist ein Mehrebenensystem. Es basiert auf einem Zusammenwirken zwischen internationaler und nationaler Strafjustiz. Der IStGH steht für die internationale Ebene, also eine Strafverfolgung, die über den nationalen Staaten steht und gleichsam weltweit wirkt. Wie in der nationalen Strafjustiz werden auch vor dem IStGH Einzelpersonen für Straftaten zur Verantwortung gezogen. Sachlich zuständig ist der IStGH für die vier völkerrechtlichen Kernverbrechen. Das sind Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression. Das Problem, das wir im Fall der Ukraine haben ist, dass die Zuständigkeit des IStGH auf einer Art Zustimmungsprinzip basiert. Das heißt, er ist eigentlich nur dann zuständig, wenn die Taten entweder auf dem Gebiet eines Vertragsstaates begangen werden oder von einem Staatsangehörigen eines Vertragsstaates. Weder Russland noch die Ukraine sind dem IStGH-Statut beigetreten. Entsprechend kann der IStGH eigentlich nicht tätig werden. Aber im Zusammenhang mit dem Krim-Konflikt von 2014 hat die Ukraine eine sogenannte ad-hoc Erklärung unterzeichnet und den IStGH für eine bestimmte Situation anerkannt, also nicht allgemein, sondern situationsspezifisch. Diese Erklärung ist aber so allgemein gehalten, dass sie alle Verbrechen auf dem Gebiet der Ukraine ab einem bestimmten Zeitpunkt umfasst und daher auch jetzt im aktuellen Krieg wirksam ist. Das ist die Basis, auf der Chefankläger Kahn nun in der Ukraine tätig wird. Im Moment geht es dabei erst einmal um die Dokumentation der Verbrechen, Sichtung von Beweisen, Sammlung von Zeugenaussagen usw.
Auf der nationalen Ebene in der Ukraine gab es bereits einen Kriegsverbrecherprozess, in dem ein russischer Soldat zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Können Sie hierauf eingehen?
Für Transitional Justice Prozesse ist es zunächst einmal sehr sinnvoll, dass wir die Prozesse dort führen, wo die Verbrechen begangen werden, weil sie dort sichtbar sind und möglicherweise auch den größten gesamtgesellschaftlichen Effekt haben können. Auf der anderen Seite ist natürlich die Frage: Wie neutral kann ein Opferstaat sein? Nehmen wir etwa dieses Verfahren gegen den russischen Soldaten, dessen Verhandlung wenige Kilometer von der Kampflinie unter dem unmittelbaren Eindruck der Feindseligkeiten geführt worden ist. Es verlangt den Richtern schon eine ganze Menge ab, sich davon freizumachen. Wir dürfen bei aller Sympathie mit der Ukraine nicht vergessen, dass sie Anfang des Jahres noch für rechtsstaatliche Defizite getadelt wurde, insbesondere im Justizsystem. Die Ukraine ist nicht das, was wir unter einem gefestigten Rechtsstaat verstehen. Gerade in den Bereichen Unabhängigkeit der Justiz, politische Orientierung der Justiz und Korruption in der Justiz wurden der Ukraine erhebliche Versäumnisse zur Last gelegt.
Was heißt das konkret in Bezug auf die strafrechtliche Verfolgung des russischen Soldaten?
Der junge Soldat hat einen Zivilisten erschossen, es liegt also die Tötung eines Menschen vor. Aus nationaler Sicht ist es verständlich, darauf mit der Höchststrafe, nämlich lebenslang, zu reagieren. Man darf aber nicht vergessen, dass wir im Völkerstrafrecht andere Maßstäbe haben. Wir müssen ja auch die Verantwortlichkeit eines ranghohen Offiziers abbilden können, der für die Tötung von Tausenden, für die Vergewaltigung von Tausenden, für die Folter von unzähligen Menschen verantwortlich ist. Das heißt nicht, dass der konkrete Soldat gerechtfertigt oder entschuldigte ist, in dem, was er getan hat. Aber wenn wir hier mit der Höchststrafe einsteigen, dann stellt sich irgendwann die Frage, wie das internationale Strafrecht die unterschiedlichen Unrechtsdimensionen abbilden kann. Der zweite große Punkt ist die Frage nach einer drohenden Einseitigkeit: Strafgerichte erzählen nach solchen Konflikten auch immer eine bestimmte Legacy, eine bestimmte Geschichte. Ich glaube, wir werden hier von den Strafgerichten die Geschichte des brutalen Russlands hören, das über die Ukraine hergefallen ist. Und die Geschichte stimmt sicherlich auch im Kern. Aber wir wissen etwa aus Berichten von Human Rights Watch, dass auch auf ukrainischer Seite Kriegsverbrechen begangen werden. Wenn wir anfangen, diese in der Strafjustiz auszublenden, dann wird es auf lange Sicht den gesellschaftlichen Heilungsprozess nicht fördern.
Die strafrechtlichen Verfahren, die jetzt eingeleitet werden, sind sehr langjährig. Was bedeutet das, insbesondere auch für den Transitional Justice Prozess?
Kriegsverbrechen oder völkerrechtliche Verbrechen allgemein sind sehr komplex. In dieser Kollektivität individuelle Verantwortlichkeit nachzuweisen, ist schwierig. Deswegen dauern diese Verfahren so lange. Gerade mit Blick auf Transitional Justice darf man sich deswegen auch keine Wunder vom Strafrecht erhoffen. Strafrecht kann immer nur ein kleiner Baustein sein, ich glaube ein wichtiger Baustein, weil es der schärfste Mechanismus ist, den wir haben, um individuelle Verantwortlichkeit zu bestimmen und klar zuzuweisen. Aber es ist ein langsamer Mechanismus, der seine Zeit braucht und seine Wirksamkeit erst über Jahre entwickelt.
Der Angriff auf die Ukraine wird medial oft als „Zäsur“ in Europa beschrieben. Was bedeutet das Ihrer Meinung nach – auch aus Perspektive des internationalen Strafrechts?
Diese Aussage von der „Zäsur“ und „wir sind in einer neuen Welt aufgewacht“ – das ist eine sehr westliche Perspektive. Ich glaube, wir sind schlicht zu der Erkenntnis aufgewacht, dass der Westen nicht so sicher ist, wie wir immer dachten. Ob es für den Rest der Welt auch so ein „Erweckungsmoment“ war, wage ich zu bezweifeln. Und die Art und Weise, wie der Westen jetzt reagiert, kann auch kritisiert werden – in anderen Konflikten zeigt er deutlich mehr Zurückhaltung. Die Frage ist, ob die Ukraine nicht leider ein weiteres Beispiel für einen gewissen „Western bias“ im Völkerstrafrecht wird, also dafür stehen wird, dass das Strafrecht vor allem dann stark instrumentalisiert wird, wenn westliche Interessen und westliche Sicherheitsideen bedroht sind.
Gibt es weiterführende Punkte, die Ihrer Ansicht nach öffentlich zu wenig behandelt werden?
Was mich im öffentlichen Diskurs beunruhigt, ist eine gewisse Einseitigkeit in der Wahrnehmung. Natürlich verdient die Ukraine unsere volle Solidarität als angegriffener Staat. Das darf aber nicht dazu führen, dass wir blind werden für strukturelle Defizite, die die Ukraine hat. Die Anerkennung als EU-Beitrittskandidat etwa, die jetzt in einer unglaublichen Geschwindigkeit vor sich geht, ist möglicherweise auch ein Affront gegen die Balkanstaaten, die schon lange auf eine EU-Mitgliedschaft hinarbeiten. Wir müssen aufpassen, dass das erforderliche, notwendige und gebotene Maß an Solidarität nicht in eine gewisse Einseitigkeit umschwenkt. Es ist eine Sache, Kriegswaffen in einen Verteidigungskrieg zu liefern. Man muss aber auch überlegen, wo möglicherweise Grenzen liegen und welche Sicherheitsmechanismen man etablieren kann, damit es nicht zu einer Unterstützung von Kriegsverbrechen kommt. Das Völkerstrafrecht dreht sich immer um die Bemühung, beide Seiten zu sehen und nicht auf die Idee zu kommen, Leiden gegeneinander abwägen zu wollen.
Bio:
Stefanie Bock ist Professorin für (Internationales) Strafrecht an der Philipps-Universität Marburg und Direktorin des Internationalen Forschungs- und Dokumentationszentrums Kriegsverbrecherprozesse.