Nach Ausbruch des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine gab es in Deutschland und Europa schnell Konsens darüber, dass ukrainischen Geflüchteten geholfen werden muss; dass wir in dieser schweren Stunde zusammenstehen müssen. Die EU und Deutschland haben sich daraufhin öffentlichkeitswirksam dafür ausgesprochen, dass sie Geflüchteten aus der Ukraine solidarisch zur Seite stehen und dass sie alles dafür tun werden, dass die Konsequenzen des Krieges und der Flucht nicht noch schlimmer ausfallen. Diesen Versprechungen ließen sie auch Taten folgen, u.a. durch vereinfachte Einreise und Aufenthalt in der EU sowie Schaffung von langfristigen Bleibeperspektiven durch Zugang zum Arbeits- und Bildungsmarkt.
Schnell war klar, dass „wir“ die Guten sind und die anderen, nämlich Putin und Russland, die Bösen. Jedoch lassen solche Schwarz-Weiß-Dichotomien in komplexen Gemengelagen wie diesem Krieg kaum Raum für Schattierungen. Denn die soeben genannten Bestimmungen gelten bis heute nicht für sogenannte Drittstaatler:innen ohne permanenten Aufenthaltstitel in der Ukraine, von denen der überwiegende Teil Schwarze und People of Color Studierende oder Arbeiter:innen sind.
Die Black Lives Matter-Bewegung von 2020 hat in Deutschland erstmals dazu geführt, dass struktureller Rassismus besprechbar wurde. Dasselbe könnte 2022 für die Besprechbarkeit von institutionellem Rassismus bedeuten. Denn der Krieg in der Ukraine und die daraus resultierende Fluchtbewegung zeigen so deutlich wie selten auf, wie institutionalisierter Rassismus in Deutschland funktioniert.
Doch was genau ist institutionalisierter Rassismus? Hierzu eine kurze Definition aus dem Berliner Konsultationsprozess im Rahmen der internationalen Dekade für Menschen afrikanischer Herkunft: „Institutionalisierter Rassismus beschreibt eine komplexe Vermengung von administrativen Prozessen, Rahmenbedingungen und Handlungsfeldern. Diese beinhalten (1) interne Handlungen, Unterlassungen und Bevorzugungen; (2) sowie deren beabsichtigte und unbeabsichtigte Folgen, die in ihrer Gesamtheit auf eine Diskriminierung hinauslaufen; (3) und durch unbewusste Vorurteile, Ignoranz, Gedankenlosigkeit und rassistische Stereotype bestimmte Menschen sowohl individuell als auch kollektiv benachteiligen.“
Wie war also die Situation in Folge des Krieges in der Ukraine? Eine Vielzahl von Schwarzen und PoC-Geflüchteten berichteten davon, dass sie rassistischen Schikanen durch Grenzsoldat:innen, Sicherheitspersonal und Polizist:innen ausgesetzt waren, dass sie an der Flucht gehindert wurden und teilweise tagelang an der polnisch-ukrainischen Grenze verharren mussten – in der Kälte, ohne Verpflegung oder medizinische Versorgung. Dass der Grundsatz „Frauen und Kinder zuerst“ nicht für Schwarze und PoC-Frauen und Kinder galt. Dass sie an EU-Grenzen Racial Profiling und Internierungen in Detention Camps ausgesetzt waren. Dass sie, in Deutschland angekommen, erneut Racial Profiling ausgesetzt waren und in aussichtslose Asylverfahren gedrängt wurden und dass sie nun weiterhin in rechtlicher Unsicherheit leben, da sie nicht wissen, ob sie nach Ablauf der bundesweiten Ausnahmeregelung für Geflüchtete aus der Ukraine, die bis zum 31. August 2022 gilt, abgeschoben werden oder jemals ihr Studium beenden werden können.
Obwohl Schwarze und PoC-Geflüchtete vor demselben Krieg fliehen, wie weiße ukrainische Geflüchtete, obwohl ihre Lebensgrundlage ebenso zerstört wurde, obwohl sie ebenfalls Familien und Freund:innen zurücklassen mussten, obwohl ebenfalls ihr Arbeitsplatz und ihr Studium und damit entscheidende Teile ihre Lebensgrundlage zerstört wurden, finden sie im vermeintlich sicheren Deutschland kaum Ruhe.
Warum ist das so? Rassistische Narrative rund um Migration, Asyl und Entwicklung spielen hier eine entscheidende Rolle spielen. Die Geschichten, die sich der globale Norden über den globalen Süden erzählt, in denen es um das „Andere“, das „Fremde“ und das „nicht mit uns zu Vereinbarende“ geht, beeinflussen entscheidend den Grad der Solidarität, der einigen Gruppen selbstverständlich und anderen Gruppen nicht, weniger oder mit größerer Zurückhaltung entgegengebracht wird. Diese westlichen, weißen Erzählungen beeinflussen ebenso, ob politische Entscheidungen für oder gegen gewisse Gruppen ausfallen. Dort, wo der politische Wille da ist, werden Wege, Mittel und rechtliche Instrumente gefunden, um eine humane Behandlung von Geflüchteten zu gewährleisten. Wenn der politische Wille aber fehlt, werden Argumente rund um Knappheit von Ressourcen und rechtlichen Unmöglichkeiten vorgeschoben, um bestimmten Geflüchteten eine humane Behandlung zu verwehren.
Diese u.a. von Rassismus und Klassismus geprägten Narrative stehen in einer verheerenden Wechselwirkung mit dem de-facto Verhältnis zwischen globalem Norden und globalem Süden, welches u.a. durch restriktive Migrations- und Asylregime, ausbeuterische Handelsregime und der Ausgrenzung entlang von Nationalitäten institutionalisiert und rechtlich zementiert wurde. Ein Vergleich mit der Flucht- und Migrationsbewegung von 2015 verdeutlicht diese Dynamik, die sich mindestens auf drei Ebenen offenbart:
1) Sittlichkeit (Moral)
Wir wissen, dass alle Menschen, die vor Krieg fliehen, ein verbrieftes Recht auf Asyl haben. Darüber hinaus wissen wir, dass es in humanitären Krisen keine Unterscheidungen unter ihnen geben sollte. Dennoch zeigt die Realität ein anderes Bild. Während heute das Mensch-Sein und die Schutzbedürftigkeit der Ukrainer:innen zentriert wird, wurde 2015 noch von Flüchtlingswellen und der Notwendigkeit der Verteidigung der europäischen Grenzen gesprochen. Anders als 2015 würde sich heute wohl kein:e Politiker:in trauen, das Asylrecht grundsätzlich infrage zu stellen. Im Gegenteil: Solidarität mit den Ukrainer:innen zu zeigen, wurde zum Trend. Ihnen zu helfen das oberste Gebot. Anders als 2015 wird die Flucht nach Europa oder die Hilfe zur Flucht nicht kriminalisiert.
2) Nützlichkeit
Anders als 2015 wird heute nicht davon gesprochen, dass wir nicht alle aufnehmen können, dass Geflüchtete nur in unsere Sozialsysteme migrieren möchten oder sich nicht integrieren wollen. Stattdessen wird betont, dass die Geflüchteten aus der Ukraine zivilisiert sind, dass sie ganz andere Geflüchtete sind, dass sie ja arbeiten wollen. Solche von rassistischen Stereotypen geprägten Überlegungen stellen eine gefährliche Vermengung von menschlichem Wert mit ökonomischer Verwertbarkeit dar, denn sie suggerieren unmissverständlich, dass die „normalen“ Geflüchteten nicht arbeiten wollen und „uns“ damit auf der Tasche liegen. Darüber hinaus wird mit einer solchen Darstellung völlig außer Acht gelassen, dass ukrainische Geflüchtete unmittelbar arbeiten dürfen, während Geflüchteten aus nicht-weißen Ländern nur sehr schwer an eine dafür erforderliche Fiktionsbescheinigung kamen und kommen. Hier lässt sich sehr deutlich der verheerende Teufelskreis zwischen rassistischen Stereotypen und institutionalisierten Rassismus erkennen, da sie sich gegenseitig vermeintlich legitimieren.
3) Machbarkeit
Anders als 2015 wird nicht mit rechtlichen Unmöglichkeiten argumentiert. Stattdessen werden u.a. durch die sogenannte Massenzustromrichtlinie auf EU-Ebene und durch §24 Aufenthaltsgesetz in Deutschland zügig rechtliche Mittel gefunden, um den solidarischen Worten auch Taten folgen zu lassen. Dieselben Bestimmungen hätten auch schon für Geflüchtete aus Syrien oder Afghanistan gelten können. Allein der politische Wille fehlte. Wir sehen heute, dass eine humane Geflüchtetenpolitik in Deutschland auch ohne unverhältnismäßige Anstrengungen funktioniert. 2015 wäre das auch schon möglich gewesen.
Europa und Deutschland stellen sich als solidarisch und geschlossen dar, dabei geht es faktisch insbesondere um weiße Solidarität und weiße Geschlossenheit.
Klar ist, dass z.B. §24 Aufenthaltsgesetzes sowie alle anderen asylrechtlichen Bestimmungen, die geflüchteten ukrainischen Staatsbürger:innen zugutekommen, dringend auch auf alle sogenannten Drittstaatler:innen angewendet werden müssen. Natürlich würde dadurch institutionalisierter Rassismus in Deutschland nicht annähernd beseitigt werden, es wäre aber ein Schritt in die richtige Richtung.