Formen des Krieges: Genozidale Rhetorik und sexualisierte Gewalt

Putin spricht in seinen Reden zur Nation und zur internationalen Öffentlichkeit immer wieder von dem angeblichen Genozid an der russischsprachigen Bevölkerung auf der Krim durch die ukrainische Regierung. Er sehe es als seine Pflicht an, die russische Welt zu schützen und die russischstämmigen Menschen auf der Krim vor Vernichtung und Völkermord zu bewahren. Laut Putin sei die „Schaffung eines ethnisch sauberen ukrainischen Staates, der aggressiv gegen Russland eingestellt ist, hinsichtlich seiner Folgen vergleichbar mit der Anwendung einer Massenvernichtungswaffe“ [1]. Tatsächlich sieht weder die OSZE-Beobachterkommission, noch der Bericht des UNO-Hochkommissariats für Menschenrechte Anzeichen für einen Genozid durch ukrainische Truppen auf der Krim.

Genozid, was meint das überhaupt?

Der Begriff des Völkermordes oder Genozid ist historisch relativ jung und fand erst in Folge des Holocaust weite Verbreitung. Der Begriff bezeichnet Handlungen, die in der Absicht erfolgen, eine bestimmte Gruppe von Menschen ganz oder teilweise auszulöschen. Die Gruppenzugehörigkeit wird dabei von den Täter:innen bestimmt, entlang von Kategorien wie Religion, Nationalität und Ethnie. Betroffene können sich dieser Zuschreibung also nicht entziehen. In der UN-Völkermordkonvention werden unter anderem folgende Merkmale für einen Genozid genannt: „Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe; [sowie die] vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen“[2]. Völkermord juristisch nachzuweisen, ist oft schwer. Denn dafür muss die konkrete Gewalttat einer Person mit der oben genannten Absicht des Auslöschens der Gruppe in direkten Zusammenhang gebracht werden können. Politisch wird sich der Begriff aber, nicht nur von Putin, gerne angeeignet, wird Genozid doch oft als das schlimmste aller Verbrechen gefasst.

Die genozidale Rhetorik der russischen Regierung

Während es für die Genozid-Vorwürfe von Putin gegenüber ukrainischen Truppen keine Beweise gibt, zeigen sich in der Rhetorik auf russischer Seite durchaus Elemente, die auf eine Vernichtungsabsicht gegenüber der ukrainischen Bevölkerung hindeuten können.

Ein sehr eindrückliches Beispiel dafür ist der Artikel „Was soll Russland mit der Ukraine tun?“ von Timofei Sergeizew, der am 3. April 2022, dem Tag des Bekanntwerdens der Massaker an der ukrainischen Bevölkerung in Butscha, von der russischen Nachrichtenagentur RIA Novosti veröffentlicht wurde [2]. In diesem Artikel wird der Ukraine als Staat das Existenzrecht abgesprochen und der russische Angriffskrieg legitimiert. Der Autor spricht in seinem Artikel von der Notwendigkeit einer „Entnazifizierung“ und damit einer Vernichtung der Ukraine und der ukrainischen Identität. Nazismus setzt er dabei mit einem Streben nach Unabhängigkeit und proeuropäischen Werten gleich. Der Autor spricht von der Notwendigkeit der Vernichtung der bewaffneten Kräfte und der führenden Nazis in der Ukraine. Auch eine vollständige Lustration, also eine Reinigung, sei nach Meinung Sergeizews unumgänglich. Um diese Umerziehung des ukrainischen Volkes zu gewährleisten, sei es notwendig, die Kontrolle über die Gebiete der Ukraine zu übernehmen und diese zu sichern, womit der Autor der Ukraine de facto die Souveränität als Staat aberkennt. Zwischen den Zeilen schwingt eine Legitimierung aller Mittel mit, die dem Ziel dienen, die Ukraine aus Sicht Russlands von den Nazis in ihren eigenen Reihen zu befreien. Das schließt aus russischer Sicht eben auch eine Reinigung der Zivilbevölkerung ein. Dass Russland der Ukraine jedwede Souveränität und autonome Existenzberechtigung abspricht, ist mittlerweile offenkundig. So spricht der ehemalige russische Präsident Dimitrij Medwedew davon, dass die Ukraine „von der Landkarte verschwinden“ könnte und droht mit dem „jüngsten Gericht“. 

Sexualisierte Gewalt im Ukraine-Krieg

Die Zivilbevölkerung bekommt die ganze Grausamkeit des Krieges Russlands gegen die Ukraine zu spüren. Bombardements von zivilen Gebäuden und Hinrichtungen von Zivilisten durch die russischen Streitkräfte in besetzten Gebieten scheinen in diesem Konflikt an der Tagesordnung zu sein. Gerade Frauen sind in Krisengebieten zudem immer wieder sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Diese Gewalt reicht von Demütigungen bis hin zu Vergewaltigungen. Nachdem die ukrainische Armee einige Städte, wie zum Beispiel Charkiw, von der russischen Armee zurückerobern konnte, kommen immer mehr Kriegsverbrechen zutage, die während der Zeit der russischen Besatzung an der Zivilbevölkerung begangen wurden. So gibt es etwa zahlreiche Berichte über Vergewaltigungen ukrainischer Frauen und Mädchen durch russische Soldaten. Bei der 9013. Sitzung des UN-Sicherheitsrates im April 2022 berichtete die ukrainische Frauenrechts-Aktivistin Kateryna Cherepakha per Video-Schalte von Sexualverbrechen in den vorübergehend besetzten Gebieten der Ostukraine. Die hohe Anzahl an gemeldeten Vergewaltigungen, lässt den Rückschluss zu, dass Russland sexualisierte Gewalt als Waffe einsetzt.  Was diese Vermutung unterstreicht, ist auch die Tatsache, dass sich die eingesetzte sexualisierte Gewalt nicht auf einzelne russische Truppenteile oder bestimmte besetzte Gebiete beschränkt, sondern überall dort zu beobachten ist, wo die russische Armee einfällt. Doch die Aufklärung und damit die strafrechtliche Verfolgung solcher Verbrechen stellt sich immer wieder als sehr schwierig heraus. Viele Opfer überleben die sexuellen Übergriffe nicht, und jene, die überleben, sind meist traumatisiert. Auch Scham und die Angst, eine Mitschuld unterstellt zu bekommen, spielt [D3] oft eine große Rolle, sodass viele Betroffene nicht über die Taten sprechen.

Was oft übersehen wird: auch wenn Frauen die größte Zahl ausmachen, werden nicht nur sie Opfer sexueller Gewalt. Bei sexualisierter Gewalt gegen Männer spielt die Erniedrigung des Gegners eine tragende Rolle. Dabei kommt es gegenüber der männlichen Bevölkerung seltener zu Vergewaltigungen, als viel mehr zu sexualisierter Folter, den Zwang zur Ausübung sexueller Handlungen unter Androhung des Todes, sowie Bloßstellung der Opfer. Da die sexualisierte Gewalt in der Ukraine oft zu einem gewaltsamen Tod oder Suizid führt, kann  man sie durchaus als Kriegswaffe ansehen. Sexualisierte Gewalt in der Ukraine ist eine Form der Machtausübung und Machtdemonstration der russischen Armeen gegenüber der Bevölkerung eines Landes, das aus ihrer Sicht keine Existenzberechtigung hat. Die Häufigkeit, mit der sexualisierte Gewalt in der Ukraine stattfindet, lässt darauf schließen, dass sie von der russischen Militärführung mindestens geduldet wird.

Sexualisierte Gewalt in kriegerischen Konflikten

Sexualisierte Gewalt ist ein wesentlicher Bestandteil von fast allen kriegerischen Konflikten. Die konkrete Funktion kann sich unterscheiden, aber zentrale Bestandteile sind die Demonstration von Macht und die Demoralisierung der gegnerischen Gruppe. Neu ist allerdings, dass diese Form der Gewalt in dem aktuellen Konflikt in der Ukraine ein so starkes öffentliches Interesse erfährt. Dies ist zurückzuführen auf eine neue Sensibilität für das Thema in der internationalen Öffentlichkeit, welche wohl nicht zuletzt auch auf die jüngsten Genderdebatten zurückzuführen sind. Die Resolution des Sicherheitsrates 1325, die im Jahr 2000 verabschiedet wurde, war ein Meilenstein in Sachen Verhütung und Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in kriegerischen Auseinandersetzungen.

Sexualisierte Gewalt kann auch ein Gewaltelement in Genoziden sein. Die Anerkennung und Beachtung dieser Form der Gewalt ist deswegen außerordentlich wichtig. Inwiefern sich bei der Gewalt Russlands gegen die Ukraine von einem Genozid sprechen lässt, kann noch nicht abschließend gesagt werden. Manche Formen der Gewalt und Elemente genozidaler Rhetorik, wie sie sich zum Teil zu vernehmen sind, legen den Verdacht durchaus nahe. Es bleibt zu hoffen, dass spätestens nach Beendigung des Konflikts eine uneingeschränkte Aufklärung aller begangenen Kriegsverbrechen geschehen wird und die Verantwortlichen, vom einfachen Soldaten bis hin zur obersten Befehlsebene, zur Verantwortung gezogen werden.


[1] Das hatte Putin bereits im Juli 2021 in einem Artikel behauptet.

[2] Artikel II der Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung von Völkermord, Generalversammlung der Vereinten Nationen, 9. Dezember 1948,

[3] Eine deutsche Übersetzung des Artikels wurde auf der Website der Blätter für deutsche und internationale Politik veröffentlicht.


Bio:

Stefanie Bilinski hat Geschichte und Politikwissenschaften in Bonn studiert, mit den Schwerpunkten Internationale Beziehungen, Nationalsozialismus und Osteuropäische Geschichte