Raum und Revolution: Politischer Widerstand in Khartum

Dem öffentlichen Raum kommt in Revolutionen eine große Bedeutung zu. Myriam Ahmed kontextualisiert ihn am Beispiel der sudanesischen Revolution 2018/2019.

Öffentliche Räume dienen oft als Schauplätze von zivilem Ungehorsam: seien es Demonstrationen in Straßen, Proteste vor politisch wichtigen Gebäuden oder bei der Besetzung von Plätzen. In autoritären Kontexten, wo jegliche Form von Kritik an die Herrschenden stark unterdrückt wird, ergibt sich neben der beschränkten Versammlungsfreiheit die Herausforderung, dass öffentliche Räume versicherheitlicht werden, also von politischen Akteuren als Sicherheitsproblem dargestellt werden, deren Eindämmung es bedarf. So wird die massive Kontrolle öffentlicher Räume begründet.. Dennoch gelingt es politischen und sozialen Bewegungen immer wieder, Plätze zu besetzen und so den öffentlichen Raum für sich zu beanspruchen und ihn zu politisieren.

In der sudanesischen Hauptstadt Khartum, die seit 2023 von Krieg geprägt ist, war dies im Zuge der friedlichen Dezemberrevolution, die 2019 begann der Fall: Nachdem Demonstrant*innen monatelang regelmäßig durch die Straßen des ganzen Landes marschiert und den Fall des Regimes unter Präsident Omar al-Bashir gefordert hatten, setzten sich die Demonstrant*innen in Khartum am 6. April 2019 als Ziel des Protestmarschs das Militärhauptquartier in Khartum. Begleitet von zahlreichen u.a. gewaltvollen Auseinandersetzungen mit den sudanesischen Sicherheitskräften, erreichten die Demonstrant*innen schlussendlich ihr Ziel, wo die Entscheidung gefällt wurde, den Platz zu besetzen und ein Sit-in[i] vor dem Hauptquartier zu veranstalten. Bereits nach sechs Tagen trat al-Bashir zurück und eine militärische Junta bestehend aus der Armee (SAF) und den paramilitärischen Rapid Support Forces (RSF) übernahm vorübergehend die Regierung; die Demonstrant*innen verharrten jedoch weitere 52 Tage an Ort und Stelle, um ihrer Forderung nach einer zivilen Regierung Nachdruck zu verleihen, bevor der Sit-In schließlich am 3. Juni brutal auf Anweisung der Junta geräumt wurde. Dieser Schauplatz friedlicher Proteste sowie gewaltvoller Auseinandersetzungen wird von vielen bis jetzt als einer der zentralen Räume des politischen Widerstands und der Revolution erinnert. 

Die Wahl von öffentlichen Räumen als Schauplätze von politischen Aktionen ist meist strategisch begründet. Die Revolutionen der letzten zwei Jahrzehnte fanden gemäß dem Politikwissenschaftler Mark Beissinger hauptsächlich in urbanen Räumen statt. Dadurch, dass in zentralisierten Staaten die Machtinstanzen meist in urbanen Räumen angesiedelt sind, sind politische Aktionen in Städten meist am disruptivsten (Beissinger, 2022). Die Entscheidung, in Khartum die Hauptquartiere zu besetzen, ergibt sich u.a. aus den gegebenen räumlichen Bedingungen. Die Hauptquartiere sind geografisch zentral gelegen und sowohl mit mehreren Hauptstraßen als auch mit dem Eisenbahnnetz verbunden. Sie sind daher gut zu erreichen – auch für Demonstrant*innen, die 2018/2019 von außerhalb Khartums anreisten. Der Ort wurde zudem aufgrund einer symbolisch begründeten Strategie gewählt: Die Demonstrant*innen wollten das Militär auf ihre Seite ziehen und so den Erfolg der Revolution garantieren. Denn über 30 Jahre zuvor, am 6. April 1985 während der zweiten Revolution im Sudan, war es das Militär, das sich an die Seite der Revolutionsbewegung stellte und den damaligen Präsidenten stürzte. Es war also nicht nur die geografische Lage des Hauptquartiers, die wichtig war, sondern auch die Bedeutung, die aus der Geschichte gezogen und diesem spezifischen Raum zugeschrieben wurde.

Die politische Bedeutung, die den Hauptquartieren vor dem Sit-In zukam, veränderte sich während der 58-tägigen Besetzung. Dies geschah parallel mit der physischen Veränderung des Raumes; so bauten die Demonstrant*innen im Verlaufe der Zeit ein ganz eigenes Ökosystem auf, das ihre täglichen Bedarfe abdecken konnte. Neben Zelten, Gemeinschaftsküchen und Kliniken, umfasste das 108 Hektar große Protestgelände auch Bühnen und Kulturzentren (Bahreldin, 2020). Das Erste, was jedoch von den Demonstrant*innen errichtet wurde, waren die Barrikaden um das Gelände herum. Sie markierten die Grenzen eines Raumes, der jetzt nicht mehr dem Militär oder dem Regime gehörte, sondern den Demonstrant*innen. Damit wurde signalisiert, dass die bestehenden Machtverhältnisse sich langsam zu verändern begannen. Zu diesem Zeitpunkt waren es nicht mehr das Militär oder die Sicherheitskräfte, die entscheiden wer Zugang erhält, sondern Demonstrant*innen. Mit diesem größeren Akt der Besetzung manifestierten sie ihren Widerstand. 

Über die physische Veränderung und Aneignung des Raums hinaus, hatte der Sit-in eine weitere, zentrale Bedeutung für die Widerstandsbewegung: Er bot einen Raum des kulturellen, sozialen und politischen Austauschs. Nach 30 Jahren Repression und starker sozialer Trennung einer äußerst diversen Gesellschaft, war es die Kopräsenz (Schumann & Soudias, 2014) vor dem Hauptquartier, welche es erlaubte, sich zu versammeln, sich auszutauschen und an einer gemeinsamen Vision zur Zukunft des Sudans zu arbeiten. Wie auch das militärische Hauptquartier liegt diese Vision von Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit nun unter Trümmern. Dennoch bleibt das Vermächtnis des Sit-Ins und seine Bedeutung bestehen; nicht nur in der Erinnerung an einen Raum, sondern auch in der Erinnerung an das Potenzial, unter schwersten Bedingungen neue Handlungsmöglichkeiten zu schaffen.

Bahreldin, I. Z. (2020). Beyond the Sit-In: Public Space Production and Appropriation in Sudan’s December Revolution, 2018. Sustainability, 12(12), Article 12. https://doi.org/10.3390/su12125194

Beissinger, M. R. (2022). The Revolutionary City: Urbanization and the Global Transformation of Rebellion. Princeton University Press. https://doi.org/10.2307/j.ctv2175r9q

Schumann, C., & Soudias, D. (2014). Präsenz und Raum in der Arabischen Revolte: Ägypten im Jahr 2011. In Präsenz und implizites Wissen (pp. 297–316). transcript Verlag. https://doi.org/10.1515/transcript.9783839419397.297


[i] Aufgrund der kolonialen Konnotation des Wortes «Besetzung» auf Arabisch, wird die Bezeichnung «Sit-in» von den Demonstrant*innen bevorzugt. In diesem Text werden beide Bezeichnungen verwendet.