Das Interview mit Gerrit Kurtz wurde am 30. April 2025 von der UNEINS Redaktion geführt. Dr. Gerrit Kurtz ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten in der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Dort befasst er sich mit Konfliktbearbeitung und Diplomatie in Sudan und dem Horn von Afrika.
Sudans Geschichte ist von zahlreichen Kriegen und gewaltsamen Konflikten geprägt. Können Sie uns einen Überblick zur Kolonialgeschichte des Sudan geben?
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war Sudan noch kein einheitlicher Staat. Das Gebiet war in unterschiedliche Sultanate und andere Herrschaftsformen unterteilt. Ab 1820 eroberten Kräfte aus Ägypten weite Teile des heutigen Staatsgebiets. Ägypten unterstand zu der Zeit der osmanischen Oberhoheit – der albanische Herrscher Muhammad Ali hatte es vorrangig auf Gold und Sklav:innen abgesehen, um seinen regionalen Einfluss zu vergrößern. Bereits unter dem turko-ägyptischen Einfluss galten dunkelhäutige Menschen aus dem Westen oder Süden als Sklav:innen, auch wenn sie Muslime wurden.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich zunächst eine einheimische Widerstandsbewegung um den Mahdi durch, eine religiöse und politische Erweckungsfigur, die einen erfolgreichen Aufstand gegen die koloniale Besatzung anführte (1883-98). Dabei gerierte sich die Mahdi-Herrschaft als Verteidiger marginalisierter Gruppen – die Armee bestand überwiegend aus Menschen aus Darfur und dem Süden. 1898 besiegten britische Truppen die Mahdi-Herrschaft und dehnten damit ihre Dominanz des Nilbeckens von Ägypten bis nach Sudan aus. Den Süden des Landes erklärten die Kolonialherren ab den 1920ern zum „geschlossenen“ Gebiet, wodurch der Aufbau von Infrastruktur und Zugang für Nicht-Einheimische beschränkt wurde. Das Sultanat von Darfur wurde erst 1916 Teil Sudans.
Die britisch-ägyptische Kolonialherrschaft beutete Rohstoffe, Arbeitskraft und Land in fruchtbaren Gebieten des Sudan im Zentrum aus. Gleichzeitig hatte Großbritannien das strategische Ziel, den eigenen Einflussbereich am Nil zu erweitern. Der Nil war zur Kontrolle von Ägypten entscheidend und Ägypten wiederum für den Suez-Kanal und die Route nach Indien.
1956 wurde der Sudan unabhängig. Mit welchen Herausforderungen war das Land in Folge konfrontiert?
Die Geschichte des Sudan seit der Unabhängigkeit ist geprägt von Bürgerkriegen und Militärherrschaften, aber auch von zivilen Aufständen dagegen.
Seit 1956 wurde der Sudan die meiste Zeit von Militärs, die durch Putsche an die Macht kamen, regiert. Im selben Zeitraum gab es aber auch drei zivile Aufstände, die zum Sturz der jeweiligen Militärregierungen führten. Die Oktoberrevolution von 1964, die die Militärherrschaft von Ibrahim Abboud beendete, und der Aufstand 1985, der zum Sturz von Jafa’ar Nimeiri führte, sind bis heute wichtige Bezugspunkte, auf die sich z.B. auch die Revolutionsbewegung 2018/2019 berief.
Zwei von insgesamt drei großen Bürgerkriegen im Sudan fanden zwischen Rebellenbewegungen im Süden – dem heutigen Südsudan – und Regierungen im Norden des Sudan statt. Der erste Bürgerkrieg von 1955 bis 1972 endete mit Zugeständnissen zugunsten der Autonomie des Südsudans. Im zweiten Bürgerkrieg von 1983-2005 waren die Kämpfe zwischen der Rebellenbewegung Sudan People’s Liberation Movement (SPLM) sowie einer abtrünnigen Fraktion, die von der Regierung in Khartum unterstützt wurde, über weite Teile verlustreicher als Auseinandersetzungen zwischen SPLM und Regierungsarmee.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts brach ein weiterer Bürgerkrieg aus. Welche Ursachen gab es für den Darfur-Konflikt?
Die Geschichte und Politik Sudans ist geprägt von der Ausbeutung von Ressourcen und Arbeitskräften der Peripherie durch die wechselnden politischen Akteure im Land. Dies führte zu Gegenbewegungen in verschiedenen Teilen des Landes, besonders im Westen in der Region Darfur. Anfang der 2000er bildeten sich dort Rebellenbewegungen, gegen die die Regierung einen Krieg führte. Dieser wirkte sich stark zu Lasten der Zivilbevölkerung aus.
Für den Darfur-Konflikt sind Auswirkungen der Klimaveränderung von großer Bedeutung. Sie betreffen die Region besonders stark; die erratischen Regenfälle und die Ausweitung der Wüste nach Süden führten zu einer Veränderung der saisonalen Migrationsbewegung. Das veränderte das Verhältnis zwischen nomadischer und sesshafter Bevölkerung, die oft unterschiedlichen Volksgruppen angehören, die „arabisch“ bzw. „afrikanisch“ gelesen werden. Dieses Konfliktpotential wurde von verschiedenen Seiten weiter politisiert und instrumentalisiert.
Die Rebellen kamen aus nicht-arabischen Bevölkerungsgruppen aus Darfur, insbesondere den Zaghawa, Fur und Masalit. Gegen diese setzte die damalige Regierung unter Omar al-Bashir bereits bestehende Milizen ein, die sich aus arabischen Volksgruppen rekrutierten. Diese Milizen wurden bewaffnet, ausgebildet und arbeiteten mit dem formalen Militär zusammen. Sie wurden lokal Janjaweed (“Teufelsreiter”) genannt. Aus einer Gruppe der Janjaweed entstand 2013 die paramilitärische Miliz Rapid Support Forces (RSF), die im aktuellen Konflikt eine große Rolle spielt. Die Janjaweed gingen oft brandschatzend, plündernd und mordend gegen die nicht-arabische Zivilbevölkerung vor. Millionen von ihnen wurden vertrieben und blieben teilweise auch 20 Jahre nach Beginn des Kriegs noch in Vertriebenenlagern.
Die RSF besiegten die meisten bewaffneten Rebellengruppen schließlich, deren Reste sich nach Libyen zurückzogen. 2020 handelten Vertreter dieser besiegten Gruppen mit RSF und der Armee ein Friedensabkommen aus, das ihnen den Zugang zur Macht brachte und den Konflikt beendete – letzteres allerdings nur auf dem Papier.
2011 wurde der Südsudan unabhängig. Was bedeutete das für den Rest Sudans?
Die Unabhängigkeit Südsudans war in dem Umfassenden Friedensabkommen von 2005 als Möglichkeit vorgesehen. 2011 entschied sich die Bevölkerung des Südsudans in einem Referendum für die Unabhängigkeit. Dadurch verlor der Rest Sudans seine wichtigste Einkommensquelle: Ein Großteil der Staatseinnahmen und des Brutto-Inlandsprodukts kam aus der Ölindustrie. Die meisten Ölquellen befinden sich jedoch im Südsudan. Auch erhebliche Transferzahlungen für den Transport des Öls über Pipelines in Sudan zum Roten Meer konnten den Verlust dieser Einnahmequelle nicht ausgleichen. Das wurde zum Problem für das Regime von Omar al-Bashir. Das Regime praktizierte ein Patronage-Modell, durch das Treibstoff, Mehl und Medikamente für Eliten und die städtische Bevölkerung stark subventioniert wurde. Im Herbst 2018 wurden diese Subventionen zurückgefahren, was zu Protesten führte, die sich zuerst gegen den daraus folgenden Anstieg von Brotpreisen richteten.
Zur Revolution 2018/2019 und der Rolle der Jugendbewegungen darin gibt es bereits einen Beitrag im vorliegenden UNEINS Impulse. Können Sie uns erläutern, was nach dem Sturz von al-Bashir geschah?
Nach monatelangen Massenprotesten kam es schließlich zum Sturz von Bashir im April 2019. Das Militär und der Geheimdienst, die Bashir in einer Palast-Revolte entfernt hatten, glaubten, durch die Entfernung dieser Führungsfigur das System bewahren zu können. Das durchschauten die Protestierenden allerdings sofort. Sie verweigerten den Abbau des großen Protestcamps vor dem Militärhauptquartier im Zentrum von Khartum und forderten: “Wir wollen eine Madaniya, eine zivile Herrschaft”. Das Protestcamp bestand mehrere Monate lang. Im Morgengrauen des 3. Juni 2019 überfielen und zerstörten Sicherheitskräfte das Protestlager, töteten über 120 Menschen, vergewaltigten und verfolgten einzelne Protestierende. Doch trotz Internetsperren schaffte es die sudanesische Zivilgesellschaft Ende Juni, eine nie dagewesene Mobilisierung auf die Beine zu stellen – nicht nur in Khartum, sondern im ganzen Land. Gleichzeitig gab es Verhandlungen auch mit Unterstützung der Afrikanischen Union und Äthiopiens zwischen politischen Parteien, Gewerkschaften, Berufsverbänden und dem Militär, die schließlich im Sommer 2019 zur Einigung auf eine zivil-militärische Übergangsregierung führten.
Wie kam es zum Kriegsausbruch 2023?
Der Übergangsregierung kam zunächst große Unterstützung und Euphorie in Sudan und in der Welt zuteil. Zu diesem Zeitpunkt war der Staat jedoch bereits ausgelaugt. Die Ministerien waren zuvor von Personen besetzt, die oft unqualifiziert waren, weil sie nur aufgrund ihrer Loyalität zum Regime diese Posten erhalten hatten. Sie wurden breitflächig entfernt, der Staat hatte im Anschluss jedoch sehr wenige Kapazitäten, um Reformen umzusetzen. In der Folge gab es Unruhen, gleichzeitig versuchten auch Kräfte des gestürzten Bashir-Regimes – er selbst war im Gefängnis – zurückzukommen. Diese Regierung hielt sich für rund zwei Jahre, bis es zu einem Putsch kam. Die paramilitärische RSF und die Armee putschten zusammen, bzw. sie entfernten die zivilen Anteile der Regierung, da sie selbst schon in der Regierung vertreten waren. Ihr Ziel war es, eine Technokraten-Regierung ohne zivile Parteien durchzusetzen. Das wollte die Zivilbevölkerung aber nicht zulassen. Es kam erneut zu langanhaltenden Protesten.
Konsultationen in diesem Zeitraum wurden von der zivilen Mission der Vereinten Nationen UNITAMS zusammen mit weiteren Akteuren geführt. Zum Sommer 2022 zeigte sich das Militär offen für Gespräche mit den zivilen Politikern der vorherigen Regierung, die fortan überwiegend unter sich im kleinen Kreis verhandelten, um die Putschsituation zu beenden. Sie einigten sich im Dezember 2022 auf ein sogenanntes Rahmenabkommen, mit dem der Grundstein für eine ausschließlich zivile Regierung gelegt werden sollte. Zuvor sollte es zur Beilegung von Streitfragen kommen, zu der auch das Thema der Sicherheitssektorreform gehörte: Wie sollte der Sicherheitssektor konkret organisiert werden? In welchem Zeitraum sollte die RSF in die Armee integriert werden? Wem sollte die RSF in der Zwischenzeit unterstehen? Am Ende gab es keine Einigkeit. Das war der Auslöser für die Schüsse und den Ausbruch des Kriegs zwischen den RSF und der sudanesischen Armee am 15. April 2023. Gleichzeitig war es eine Gelegenheit für Kräfte des früheren Regimes von Bashir, ihre Machtbasis auf Seiten der Armee und zulasten jedweder demokratisch gesinnter Kräfte zu vergrößern.
Im Unterschied zu vorherigen Bürgerkriegen Sudans begann dieser Krieg also im Zentrum des Landes und der Macht zwischen zwei konkurrierenden militärischen Einheiten. Auch wenn viele in der Zivilbevölkerung grundsätzlich beide militärischen Lager ablehnen, reicht der Krieg mittlerweile immer stärker in die ethnisch-sozialen Differenzen der Gesellschaft hinein. Hassrede und ethnisch basierte Mobilisierung spielen auf allen Seiten eine zunehmende Rolle.
Welche Rolle spielen internationale Akteure im aktuellen Konflikt?
Die internationale Einmischung ist massiv. Ausländische Regierungen unterstützen die Kriegsparteien und verlängern dadurch den Krieg. Auf der einen Seite unterstützen vor allem die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) die RSF, auch wenn sie das immer wieder leugnen. Diese Unterstützung geht über viele Nachbarstaaten des Sudans weiter, wo sich die VAE Einfluss erkauft haben, insbesondere über Tschad, Südsudan, aber auch über Uganda und Kenia sowie über Teile Somalias. Auf der anderen Seite steht die Armee, die die Regierung kontrolliert und auch von den Vereinten Nationen (VN) anerkannt wird. Sie sitzt mittlerweile in Port Sudan, da Khartum zwischenzeitlich stark umkämpft war. Die Armee wird militärisch von Ägypten unterstützt, dem traditionell wichtigsten Verbündeten. Zusätzliche Waffen und andere militärische Unterstützung kommen aus Iran, der Türkei, und von Russland.