Mit der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens1 mit Israel am 27. November 2024 kehrte im Libanon der Schein von Normalität ein. In Teilen des Landes spricht man unbeschwert von baad el harb – „nach dem Krieg“. Doch für viele Libanes:innen hat der Krieg nie aufgehört. Der libanesische Informationsminister meldete über 2.700 Verstöße2 gegen den Waffenstillstand3 durch Israel. Dem entgegen steht eine Handvoll dokumentierter Angriffe aus dem Libanon auf Israel. Ende Mai 2025 griff die israelische Armee erneut mehrere Städte im Süden an – nur wenige Tage vor den ersten Kommunalwahlen in der Region seit 2016.
Der hohe Preis des Kriegs
Die Menschen im Süden, in der Bekaa-Ebene und in Beiruts südlichen Vororten kämpfen neben der Fortsetzung des Krieges auch mit seinen schweren Auswirkungen. Zwischen Oktober 2023 und September 2024 verschärften sich die israelischen Angriffe auf libanesisches Gebiet und übertrafen das Ausmaß4 der Angriffe der Hisbollah bei weitem. Der Krieg eskalierte am 17. und 18. September, als der israelische Geheimdienst Kommunikationsgeräte der Hisbollah, Pager und Walkie-Talkies, im ganzen Land zur Explosion brachte. Die Detonationen erschütterten Wohnzimmer und Krankenstationen, verletzten 3.500 Menschen und töteten mindestens 42,5 darunter auch Kinder.
Seit dem 8. Oktober 2023 wurden mehr als 4.050 Menschen bei israelischen Angriffen getötet und über 16.700 verletzt6 – überwiegend Zivilist:innen. Die Folgen des Krieges sind vielfältig: Hunderttausende wurden vertrieben, zentrale Infrastruktur wurde zerstört und das Bildungs- und Gesundheitssystem lahmgelegt. Israel setzte bei anhaltenden Luftangriffen weißen Phosphor, Artilleriegranaten und Leuchtspurgeschosse ein, wodurch Luft und Wasser verschmutzt, der Boden verseucht und Wälder verbrannt wurden. Landwirtschaftlich reiche Gebiete wurden gezielt angegriffen, was das ohnehin fragile Ernährungssystem des Libanon destabilisierte und die Existenzgrundlage der Landwirt:innen gefährdet. Es wird dauern, bis sich das Land – und die Menschen, die von ihm leben – von dieser Zerstörung erholt haben. Für viele kam die Verwüstung zum Zusammenbruch der Banken von 2019 hinzu – nachdem sie ihre Ersparnisse verloren hatten, verloren sie nun auch ihre Häuser. Der libanesische Wissenschaftler und Schriftsteller Zeead Yaghi schreibt: „Die menschlichen Kosten des israelischen Krieges gegen den Libanon sind letztlich unermesslich, jedes getötete, verstümmelte, vertriebene oder traumatisierte Leben ist ein für immer verändertes Leben.“7
Rückenwind für Libanons Reformen
Der Krieg hat die Hisbollah militärisch erheblich geschwächt. Die israelische Armee tötete einen Großteil ihrer Führung, darunter Generalsekretär Hassan Nasrallah, und zerstörte weite Teile ihres Waffenarsenals. Einst als Widerstand gegen die israelische Besatzung angesehen, hat die Hisbollah seit dem Abzug der israelischen Armee im Jahr 2000 massiv an Legitimation verloren – durch ihren Einsatz in Syrien an der Seite des Assad-Regimes, ihre Verankerung im korrupten politischen System des Libanons, und die Repression gegenüber der Zivilgesellschaft. So verantwortet sie mediale Diffamierungskampagnen gegen NGOs, Angriffe auf Demonstrant:innen und Morde ihrer Kritiker:innen. Wie alle politischen Parteien, die aus den Milizen des Bürgerkriegs hervorgegangen sind, instrumentalisiert die Hisbollah staatliche Mittel und Positionen, um sich die Gefolgschaft ihrer konfessionellen Netzwerke zu sichern. Die Hisbollah unterschied sich von den anderen Parteien vor allem durch eins: Ihr großes Waffenarsenal und ihre externe Unterstützung aus dem Iran. Als „Staat im Staat“ höhlte sie die libanesische Souveränität aus.
Nach jahrelangem politischen Stillstand dreht sich der Wind. Die neu gebildete libanesische Regierung weckt vorsichtigen Optimismus. Unter Premierminister Nawaf Salam, dem früheren Präsidenten des Internationalen Gerichtshofs, hat das Kabinett wichtige Schritte unternommen: Die längst überfälligen Kommunalwahlen haben stattgefunden, die Beziehungen zu den Golfstaaten sind aufgelebt worden, die Abgeordneten haben Gesetzesentwürfe zum Bankgeheimnis und zur Umstrukturierung des Finanzsektors vorangetrieben. Dies sind wichtige Schritte auf dem Weg zu den lang erwarteten Wirtschaftsreformen. Die Verabschiedung eines Gesetzes zur Stärkung der richterlichen Unabhängigkeit und die Wiederaufnahme der Ermittlungen zur Beiruter Hafenexplosion wurden von Jurist:innen und der Öffentlichkeit gleichermaßen begrüßt.
Doch nicht alle Hoffnungen werden sich schnell erfüllen. Viele Libanes*innen warten darauf, dass der Bankensektor transparent umstrukturiert wird, sie ihre Ersparnisse zurückerhalten, Staatsbedienstete nach Befähigung statt Loyalität ausgewählt werden, und das Wahlrecht reformiert wird, um eine faire, nicht-konfessionelle Vertretung zu ermöglichen. Doch die alte politische Elite klammert sich an das konfessionelle System der Machtteilung, das ihre Position sichert. Bei den jüngsten Kommunalwahlen in Beirut wurde dies schmerzlich deutlich: Etablierte Parteien, von der Hisbollah bis zu den christlich-rechten Libanesischen Kräften, traten mit einer gemeinsamen Liste an – und gewannen.
Die Wiederherstellung staatlicher Souveränität ist zentral. Für diesen Wandel stehen Premierminister Salam und Präsident Joseph Aoun, ehemaliger Befehlshaber der libanesischen Armee (LAF). Es gibt einmaligen Rückenwind durch die Schwächung der Hisbollah und ihres Verbündeten Iran, die Hisbollah in staatliche Strukturen zu integrieren und das Modell des „Staat im Staat“ zu überwinden. Sowohl die anhaltenden israelischen Angriffe als auch die Forderungen der USA nach einer sofortigen und vollständigen Entwaffnung der Hisbollah gefährden diesen sensiblen Prozess jedoch. Während die LAF über 90 % der Infrastruktur der Hisbollah südlich des Litani-Flusses beschlagnahmt hat, setzt Israel seine Luftangriffe fort. Dieser doppelte Druck schürt das Misstrauen in der Bevölkerung: Nur wenige glauben, dass die israelische Aggression aufhören würde, wenn die Hisbollah verschwindet oder dass die LAF sie im Ernstfall schützen könnte.
Reformen unter israelischen Luftangriffen
Im Libanon weht der Wind der Veränderung. Diese kann jedoch nur gelingen, wenn niemand zurückgelassen wird. Die Menschen im kriegsgeschüttelten Süden und in der Bekaa-Ebene sind wirtschaftlich marginalisiert und politisch unterrepräsentiert. Um dauerhaften Frieden zu schaffen, muss die neue Regierung ihr Vertrauen gewinnen und ihre Anliegen ernst nehmen. Eine repräsentative und gestärkte LAF könnte zu einer echten nationalen Institution werden, die die territoriale Integrität schützt und breite Zustimmung erfährt. Gleichzeitig müssen die USA Druck auf ihren Verbündeten Israel ausüben, damit dieser die Angriffe einstellt und innerlibanesische Prozesse nicht weiter behindert.
Die Hisbollah wird nicht einfach aus dem politischen Leben des Libanon verschwinden, selbst wenn sie ihre Waffen niederlegt. Sie ist eine bedeutende soziale und politische Kraft, betreibt Krankenhäuser sowie Wohltätigkeitsorganisationen und beschäftigt Tausende. Ein Versuch, sie völlig zu verdrängen, würde gewaltsame Gegenreaktionen und tiefe gesellschaftliche Spaltung riskieren. Und doch besteht eine historische Chance: Der Libanon kann das staatliche Gewaltmonopol zurückgewinnen und notwendige Schritte zur wirtschaftlichen Erholung unternehmen.
Die Menschen im Libanon warten darauf, ihre Häuser wiederaufzubauen, ihr Land zu dekontaminieren und ihre Felder zu bestellen. Der Wiederaufbau erfordert mutige, umfassende Reformen, getragen von der Bevölkerung und unterstützt durch die internationale Gemeinschaft. Damit die Reformen Fahrt aufnehmen können, muss der Gegenwind der israelischen Angriffe nachlassen.
Yusra Bitar und Sara Stachelhaus sind Programmkoordinatorinnen bei der Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut, der grünen politischen Stiftung mit Schwerpunkt Umweltgerechtigkeit, Demokratie, Geschlechtergerechtigkeit und Menschenrechte.
- Reuters. 27 November 2024. Israel, Hezbollah agree to ceasefire brokered by US and France, to take effect Wednesday. https://www.reuters.com/world/middle-east/israel-poised-approve-ceasefire-with-hezbollah-israeli-official-says-2024-11-26/ ↩︎
- Shafaq News. 17 April 2025. Over 2,700: Lebanon reports on Israeli ceasefire breaches. https://shafaq.com/en/World/Over-2-700-Lebanon-reports-on-Israeli-ceasefire-breaches ↩︎
- Al-Jazeera. 26 January 2025. Israel-Hezbollah ceasefire: Why is Israel still in southern Lebanon? https://www.aljazeera.com/news/2025/1/26/israel-hezbollah-ceasefire-why-is-israel-still-in-southern-lebanon ↩︎
- BBC News. 27 November 2024. Israel-Hezbollah conflict in maps: Ceasefire in effect in Lebanon. https://www.bbc.com/news/articles/c9vp7dg3ml1o ↩︎
- The Guardian. 20 September 2024. ‘We are isolated, tired, scared’: pager attack leaves Lebanon in Shock. https://www.theguardian.com/world/2024/sep/20/we-are-isolated-tired-scared-pager-attack-leaves-lebanon-in-shock ↩︎
- WHO, Health Cluster. 12 December 2024. Escalation of Hostilities in Lebanon. Public Health Situation. https://reliefweb.int/report/lebanon/escalation-hostilities-lebanon-public-health-situation-analysis-phsa-10-december-2024#:~:text=On%20average%2C%20250%20people%20have,as%20of%204%20December%202024. ↩︎
- Yaghi, Z. 12 November 2024. Strapped for cash: How Israel’s war on Lebanon sent the economy spiraling. TIMEP. https://timep.org/2024/11/12/strapped-for-cash-how-israels-war-on-lebanon-has-sent-the-economy-spiraling/ ↩︎