Wer iranische Politik der letzten Jahre beobachtete, geriet schnell in Versuchung, Tabubrüche zu konstatieren: Von der Wahlfälschung 2009 und der damit verbundenen Niederschlagung selbst regime-freundlich gesinnter Proteste, über die geographisch diversen und überraschend rasant mobilisierenden anti-Regime Proteste 2017, der selbst für iranische Verhältnisse eskalierenden Gewalt im November 2019, der Marginalisierung auch konservativer Kandidat*innen bei den Wahlen 2020 und 2021, hin zu den landesweiten Protesten 2022. Der Tabubruch, so scheint es, ist aus Sicht regierender Eliten längst zum alltäglichen Modus der Politikgestaltung geworden.
Polizei statt Politik
Das ist umso bemerkenswerter, da der iranische Staat sein Überleben lange Zeit durch die präventive Bekämpfung politischer Probleme sicherte, etwa durch einen umfangreich ausgestalteten, korporatistischen Sozialstaat (Harris, 2013; Harris, 2017). Dieser verhindert politischen Konflikt nicht, hegt ihn aber ein, indem er den Sozialstaat zum zentralen Adressaten sozioökonomischer Problemstellungen macht. Eine ähnliche Logik war dem politischen System inhärent: Es vermochte zwar nicht, eine demokratische Willensbildung abzubilden, aber es ließ genug Differenz und Kompetitivität zu, um einen Teil politischer Auseinandersetzungen in den legalen politischen Prozess einfließen zu lassen (Schirazi, 1998; Rivetti & Saleh, 2018; Rivetti, 2019). Dazu gehörte ein expliziter wie impliziter Gesellschaftsvertrag (vgl Zamirirad, 2018).
Davon ist heute wenig übrig geblieben. So ist es keine Überraschung, dass die Proteste 2017 in Städten stattfanden, in denen es zuvor Arbeitskämpfe gegeben hatte (Harris & Kalb, 2018). Aufgrund der wirtschaftlichen und politischen Misere ist der Staat immer weniger in der Lage, soziale Probleme zu bekämpfen. Und die Jina Amini Proteste hatten ihren Schwerpunkt in mehrheitlich kurdischen Regionen, in denen in den letzten Jahren immer wieder protestiert und gestreikt wurde (Sydiq, 2022a). Anstatt Zugeständnisse zu machen, reagierte der Staat immer wieder mit Repressionen. So entschied die politische Führung, politischen Konflikt durch kurzfristige Gewaltanwendung zu lösen und politische Loyalität über Kompetenz und Pluralismus zu stellen.
Kalkuliertes Eskalationspotenzial
Diese Form der Entpolitisierung politischer Konflikte nimmt seit 2009 zu. Die damaligen Proteste forderten eine faire Wahl zwischen einem konservativen und reformistischen Kandidaten, die dennoch beide dem Regime angehörten und für ein Fortdauern der bestehenden politischen Verhältnisse standen. Der Herausforderer, Mir-Hossein Mousavi, diente von 1981 bis 1989 als Premierminister und galt nicht nur als überzeugter Anhänger der Revolution von 1979, sondern auch als enger Verbündeter des ersten Revolutionsführers Khomeini. Die Gewalt gegen seine Unterstützer*innen, darunter auch Mitglieder des Sicherheitsapparates (Bajoghli, 2019), stellte eine Abkehr von politischen Mitteln des Machterhalts dar. Der amtierende Revolutionsführer Khamenei schloss so die Reihen, notfalls mit Gewalt. Dies setzte sich fort bis zu den Wahlen 2020 und 2021, als schlicht keine signifikanten Gegenkandidat*innen zugelassen wurden und der Mechanismus der Wahl als politische Legitimitationsbasis ausgehebelt wurde (Sydiq, 2022b). Das Eskalationspotenzial dieses Zusammenspiels aus politischer Schließung und gewaltsamer Repression von Dissens war spätestens jetzt erkennbar: „Die in der neueren iranischen Geschichte beispiellose Repression der Proteste von November 2019 stellt eine Zäsur dar, deren Auswirkungen nur schwer absehbar sind, aber wenig Hoffnung auf eine friedliche Beilegung zugrundeliegender Konfliktlinien bietet. Vielmehr, so scheint es, steht dem Iran ein turbulentes Jahrzehnt bevor“ (Sydiq, 2022b: 188).
Dieses Eskalationspotenzial ist vom Regime kalkuliert, es soll das eigene Überleben auf Kosten politischer Stabilität sichern. Diese Strategie übersah aber, dass auch Protestierende auf diese Tabubrüche reagieren und sich im Vergleich zu früheren, kompromissbereiteren Protesten ebenso radikalisieren können. Diese wechselseitige Radikalisierung politischer Prozesse insbesondere der jüngsten Generation Iraner*innen (Sydiq, 2022c) lässt schließlich wenig Raum dafür, die Eskalation wieder aufzufangen. Das scheinen auch politische Eliten einzusehen. So forderten sowohl Mohammad Khatami als auch Mir-Hossein Mousavi, prominente Anführer der Reformisten, ein Referendum und erklärten ihre Unterstützung für die anti-Regime Proteste – ein Novum, nachdem diese jahrelang ihre Unterstützung für ein System erklärt hatten, das sie unter Hausarrest stellte, und lediglich Reformen gefordert hatten. Auch die Unterstützung eines konservativen Klerikers wie Molavi Abdolhamid Ismaeelzahi, einstiger Unterstützer des amtierenden Präsidenten Raisi und prominenter Anführer der sunnitischen und belutschischen Gemeinde, stellt für die Protestbewegung in dieser Form ein Novum dar.
Eine neue Protestepisode?
Auf diese politischen Herausforderungen hat das Regime derzeit keine Antworten. Ausgeschlossen scheint ein Aufgreifen der Forderung nach einem Referendum, zu sehr hat die Führung um Khamenei jede Form des Entgegenkommens als ein Zeichen der Schwäche und den Beginn vom Ende der Islamischen Republik gebrandmarkt. Sie hoffe auf den – verglichen mit den Protestierenden – längeren Atem der Regime-Unterstützer*innen, und tatsächlich half ihr die prekäre ökonomische Lage hierbei. So blieb die Anzahl von Streiks während der Proteste 2022 eher gering (Jafari, i.E.), und die Anzahl von Protesten ließ im Frühjahr 2023 nach. Währenddessen baut das Regime Überwachungsmöglichkeiten aus und eine ungeklärte Reihe von Giftgasanschlägen auf Mädchenschulen verbreitete 2023 Angst. 2024 folgten weitere Repressionen, zum Beispiel gegen Studierende, die soziale Medien verwenden, Gerichtsurteilen wie dem Todesurteil gegen den Rapper Toomaj Salehi und der angekündigten Einführung einer neuen, mit der Umsetzung der Hijabpflicht beauftragten, Einheit der Revolutionsgarden. Die von der harschen Antwort auf die Proteste 2022 erschöpfte Bevölkerung hat dagegen noch nicht in größerem Ausmaße aufbegehrt. Wie schnell sich das ändern kann, zeigt allerdings der Blick in die jüngste Vergangenheit. Wenn sich das Regime verschätzt und mit einer Maßnahme spontane Empörung verursacht, kann es schnell unabsichtlich eine neue Protestwelle lostreten. Denn solange die zugrunde liegende politische Unzufriedenheit fortbesteht, kann sich das wieder in Protesten die Bahn brechen. Dass Gewalt allein keinen Protest verhindert, zeigt bereits der Ursprungsort der Jina Amini Proteste: Diese begannen ausgerechnet im besonders militarisierten Westen des Landes (Sydiq, 2022a).
Dr. Tareq Sydiq ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Konfliktforschung in Marburg. Aktuell arbeitet er im BMBF-Projekt „Postcolonial Hierarchies in Peace & Conflict“.
Literaturverzeichnis
Bajoghli, N. (2020). Iran Reframed: Anxieties of Power in the Islamic Republic.
Harris, K. (2013a). A Martyrs‘ welfare state and its contradictions. Middle East Authoritarianisms: Governance, Contestation, and Regime Resilience in Syria and Iran. Eds. Steven Heydemann and Reinoud Leenders. Stanford, CA: Stanford UP, 61-80.
Harris, K. (2017). A social revolution: Politics and the welfare state in Iran. Univ of California Press.
Harris, K. & Kalb, Z. (2018) How years of increasing labor unrest signaled Iran’s latest
protest wave, The Washington Post. Washington D.C https://www.was
hingtonpost.com/news/monkey-cage/wp/2018/01/19/how-years-of-increasing-laborunrest-
signaled-irans-latest-protest-wave/?noredirect=on&utm_term=.ed7d302a0b1f
Jafari, P. (i.E). Labour and the “Woman, Life, Freedom” protests, Iranian Studies. Preprint.
Rivetti, P., & Saleh, A. (2018). Governing after Protests. The Case for Political Participation in Post-2009 Iran.
Rivetti, P., & Saleh, A. (2018). Governing after Protests. The Case for Political Participation in Post-2009 Iran.
Rivetti, P. (2019). Political Participation in Iran from Khatami to the Green Movement. Springer Nature.
Schirazi, A. (1997). The Constitution of Iran. Politics and the State in the Islamic Republic, London/New York: IB Tauris.
Sydiq, T. (2022a). Das Pendel schwingt weiter. Zu den iranischen Protesten vom September/Oktober 2022, W&F Blog. https://wissenschaft-und-frieden.de/blog/sydiq-iran-proteste-2022-pendelschwuenge/
Sydiq, T. (2022b). Autoritäre Interessenaushandlung. Wie Iraner* innen Politik innerhalb autoritärer Rahmenbedingungen gestalten. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden.
Sydiq, T. (2022c). Youth Protests or Protest Generations? Conceptualizing Differences between Iran’s Contentious Ruptures in the Context of the December 2017 to November 2019 Protests. Middle East Critique, 31(3), 201-219.
Zamirirad, A. (2018). Auf tönernen Füßen. Ein Blick auf das vergangene Jahrzehnt der Islamischen Republik Iran. Zeitschrift für Außen-und Sicherheitspolitik, 11(4), 653-660.