Jin Jiyan Azadî – Like a Girl Boss 

Die Forderungen nach Selbstbestimmung und Würde, die “Jin, Jiyan, Azadî” impliziert, sind unvereinbar mit einem Machtsystem der Unterdrückung, das darauf nur mit Repression oder Vereinnahmung reagieren kann. Sanaz Azimipour verdeutlicht, wie eine solche Vereinnahmung durch das Instrument einer Girl-Boss Metaphorik auch in internationalen Solidaritätsbekundungen stattfindet, die schließlich der Aufrechterhaltung der herrschenden Ordnung dienen. 

Zurück in den September 2022, als nach dem brutalen Mord an Jina Amini und mit dem Aufstand der Bevölkerung im Iran alles begann. Eine Bewegung, die viele als „feministisch“ bezeichnen würden, weil sie das Recht auf Selbstbestimmung und Autonomie forderte und letztlich gegen das autoritäre Regime der Islamischen Republik kämpfte.

Die Bewegung begann in Saqqez, Rojhilat (Ostkurdistan) mit dem Slogan „Jin, Jiyan, Azadî“. Ein Slogan aus der politischen Tradition der kurdischen feministischen befreiungsbewegung. Die Bewegung verbreitete sich schnell. Nicht nur im Iran – viele Menschen in allen Ländern der Welt begannen, sich mit der Bewegung zu solidarisieren.

Aneignung und Vereinnahmung einer Bewegung
Von Anfang an überraschend war die weite Verbreitung des Slogans selbst. Tatsächlich handelt es sich bei der kurdischen Freiheitsbewegung um eine der am meisten kriminalisierten Bewegungen der Welt. Deutschland ist in der EU das Land mit der schärfsten Repression gegen Kurd*innen und die kurdische Freiheitsbewegung.[1]  Doch wie jede politische Bewegung, die sich gegen die herrschende (kapitalistische) Ordnung richtet, begann mit Jinas Bewegung auch der Prozess ihrer Kommerzialisierung: In kurzer Zeit solidarisierten sich Konzerne, politische Eliten und Regierungen mit den Frauen* im Iran. „Frau, Leben, Freiheit“ wurde auf T-Shirts gedruckt, Taschen und Tassen wurden produziert und die iranische Revolution wurde zu einem neuen Hype gemacht. 

Gleichzeitig interessierten sich die Massenmedien in Deutschland und weltweit zum ersten Mal für die Geschehnisse im Iran – der Kampf schien endlich im Mainstram angekommen. Diese Medien hatten all die Jahre zuvor geschwiegen, sei es zum blutigen November 2019, zu den landesweiten Protesten 2017 oder 2018 zu den Mädchen der Enghelabstraße . 

Dieser Prozess erscheint auf den ersten Blick als Erfolg, zumal die Massenmedien, die in der Regel die hegemonialen Narrative dominieren, als wichtiges Instrument genutzt werden können, um mehr Menschen für die Bewegung zu mobilisieren, verschiedene Kämpfe zu verbinden und schließlich transnationale Solidaritätsnetzwerke aufzubauen. Sie können aber auch zunehmend die Narrative einer Bewegung vereinnahmen, sie sich aneignen und schließlich umdeuten bis hin zu dem Punkt, an dem eine radikal revolutionäre Bewegung als bürgerlich-reformistisch erscheint. 

Wie in vielen anderen Erzählungen über Menschen (und vor allem Frauen und queere Menschen) aus dem globalen Süden, wird ihnen politische Subjektivität abgesprochen. In solchen hegemonialen Narrativen haben sie weder eine Geschichte noch eine politische Haltung. Sie sind lediglich eine homogene Gruppe von „Betroffenen“, deren Unterschiedlichkeit und Vielfalt keiner Anerkennung wert ist.

Die „mutigen Frauen“, die „Löw*innen”, die „Rebell*innen“, die sich endlich von ihren Unterdrückern, den „Mullahs“, befreien wollen – als ob der ganze Staatsapparat nur aus Mullahs bestünde und nicht wie jeder andere Staat auch als Arena politischer Praxen und Diskurse – also der (kollektiven) Aktivität von Menschen verstanden werden kann.

Zu dieser sogenannten Arena gehören Reformisten, Diplomaten und Politiker, die politische Macht ausüben; Theoretiker, Philosophen, Künstler, die für die Wissensproduktion zuständig sind; und die Sicherheitsapparate wie Polizei, Revolutionsgarde und Militär, die für die Durchsetzung der Staatsgewalt zuständig sind. Mit anderen Worten: Dieses Regime wird von Tausenden von Menschen und Apparaten von klein bis groß betrieben, die dieses Regime am Laufen halten. 

Entpolitisierung und Aufrechterhaltung des Status quo
Natürlich ist diese Repräsentation des iranischen Staates als “Mullahregime’’  zum Teil der kolonialen Wissenstradition in Form einer Unterkomplexität und extremen Reduktion geschuldet. Darstellungen, die nicht-weiße europäische Körper als nicht „erforschbar genug“ für eine komplexere Analyse betrachten und sich daher mit „mutig, nicht mutig“, „zivilisiert, unzivilisiert“, „pro-westlich, anti-westlich“ begnügen.  

Aber solche Fehlinterpretationen oder Umdeutungen dienen einem größeren Zweck: der Aufrechterhaltung des Status quo bestehender Systeme. Dass es nur um „dort“ geht. Dass es um das Kopftuch geht und nicht um körperliche Selbstbestimmung im Allgemeinen. Dass es um die Gewalt der Mullah-Polizei geht und nicht darum, dass es überhaupt rechtlich möglich ist, einer Institution wie der Polizei diese enorme legitimierte Gewaltbefugnis zu geben. 

Durch Entradikalisierung, Entpolitisierung und schließlich Vereinnahmung werden also aus radikalen revolutionären Bewegungen reformistische Feel-Good-Demonstrationen. Politischen Eliten in Deutschland wird so z.B. ermöglicht, sich als vermeintlicher Teil der Bewegung zu verstehen.

Das alles ist kein neues Phänomen, sondern Teil einer neoliberalen Politik: Aus der Black Lives Matters-Bewegung wird statt der Abschaffung oder Entfinanzierung der Polizei eine Forderung nach Veränderung und Verbesserung der Polizei, die wiederum mit Diversity- und Anti-Rassismus-Trainings aufgelöst zu sein scheint. Aus den Stonewall-Riots, die im Kern eine radikale Bewegung waren, wird die CSD-Party, auf der Polizei, Bundeswehr, Amazon und die größten Konzerne selbst einen Stand haben. In dieser Logik avanciert Jin, Jiyan, Azadî zu einer Werbung für die neue deutsche „feministische Außenpolitik“. Die neoliberale Entpolitisierung funktioniert im Grunde genommen genau so, indem einem politischen Phänomen das Verständnis seiner historischen Entstehung und der Anerkennung der Kräfte, die es hervorgebracht und geformt hat, entzogen wird. Unabhängig von ihrer besonderen Form und Mechanik entzieht sich die Entpolitisierung bei der Darstellung ihres Gegenstandes immer der Macht und der Geschichte[2]. Aber von welcher Macht und Geschichte ist genau die Rede bei Jinas Bewegung? Ihrem revolutionären und antistaatlichen Kern und Geschichte. 

Macht und Radikalität der Jina-Bewegung
Die Forderungen der Jina-Bewegung liegen nicht in einer Verbesserung des Systems, sondern im Sturz und der Abschaffung des Systems als Ganzes. (بهش نگید اعتراض، اسمش شده انقلاب- ‘’Nennt es nicht Protest, jetzt ist es eine Revolution’’)[3]

Aus dieser Einsicht ergibt sich ein politisches Verständnis: sich von der Idee der „Reform“ zu verabschieden, weil längst klar ist, dass dieses System nicht reformierbar ist. Die Abkehr vom Reformgedanken und die Hinwendung zum Revolutionsgedanken ist jedoch nicht örtlich beschränkt, sondern ein allgemeines Politikum. Eines, das für die herrschende Klasse überall als „bedrohlich’’ erscheint.

Aus diesem Grund haben viele revolutionäre Theoretiker*innen, darunter auch Marx, darauf hingewiesen, die Kämfe „zu vereinigen“. In der Tat kann man sehen, wie sehr die – vor allem feministischen – Bewegungen diese Vereinigung erreicht haben. Von Jiyan Jiyan Azadî in Kurdistan, über Zan, Zendegi, Azadi im Iran, über Naan, Kaar, Azadi in Afghanistan. Die feministischen Kämpfe des globalen Südens haben diese Notwendigkeit der Vereinigung längst verstanden und politisch praktiziert. Dieser Kampf kann nicht von den Nationalstaaten und ihren Institutionen geführt werden, da der Staat im Grunde immer Teil dieses Problems ist. Abdullah Öcalan, einer der wichtigsten Theoretiker der kurdischen Befreiungsbewegung, schreibt diesbezüglich: „Das Selbstbestimmungsrecht der Völker schließt das Recht auf einen eigenen Staat ein. Aber die Gründung eines Staates erhöht nicht die Freiheit eines Volkes… Die Nationalstaaten sind zu ernsthaften Hindernissen für jede gesellschaftliche Entwicklung geworden.’’[4]

All dies macht die Jina-Bewegung zu einer radikalen Bewegung, die jeden Staat und seine Machtmonopole in Frage stellt. Sich mit der Bewegung zu solidarisieren und ihre Forderungen zu unterstützen, wird verständlicherweise auch in Deutschland als Bedrohung empfunden. Betrachtet man die Zunahme von Überwachung, autoritärer Kontrolle und staatlicher Polizeigewalt in Deutschland in den letzten Monaten, wird dieses Infragestellen der Machtmonopole zur „Gefahr’. 

Die Girl-Boss Jin Jiyan Azadî 
Der Begriff „Girl-Bossing“ bezieht sich auf eine „purple washed“-Version kapitalistischer Ausbeutungsmechanismen, bei der es nicht um die Abschaffung von Ausbeutungsverhältnissen an sich geht, sondern um die Gleichberechtigung von Frauen, queeren Menschen und Männern in der Ausbeuterrolle. Der internationale Umgang mit Jin Jiyan Azadi wie oben skizziert kann also als „Girl-Boss“ eine neoliberalisierte Version einer feministischen Bewegung verkörpern. Diese setzt sich nicht mit Problemen wie staatlicher Gewalt und Ausbeutung auseinander, sondern damit, wie der Status quo bewahrt werden kann, aber „feministischer aussieht“. Eine entradikalisierte Version einer revolutionären Bewegung, die statt radikaler Veränderung und besserer Lebensbedingungen für erfolgreiche Frauen eine feministische Ausbeutungspolitik fordert. Eine Version, die in Solidarität mit den Menschen im Iran deren Kampf für die eigene politische Agenda instrumentalisiert.

So können auch deutsche Politiker:innen „Jin Jiyan Azadi“ rufen, aber gleichzeitig für eine menschenverachtende Reform des europäischen Asylsystems stimmen, den Ruf nach einem Waffenstillstand in Gaza ablehnen oder der Situation palästinensischer Frauen wenig Bedeutung zukommen lassen. Für Verfechter*innen einer Girl-Boss-Metaphorik ist es unvorstellbar, wie und warum diejenigen, die gerade wegen ihres Widerstands gegen das iranische Regime im Gefängnis sitzen, sich für einen Waffenstillstand in Gaza und gegen die Entmenschlichung der Palästinenser*innen einsetzen[6]. Es ist klar, dass wir eine Revolution oder eine Bewegung nicht davor bewahren können, immer in ihrer radikalen Form zu bleiben. Schließlich ist eine Bewegung die Summe der kollektiven Handlungen und Emotionen von Millionen von Akteuren. Doch was wir tun müssen, ist aktiv gegen die neoliberale Instrumentalisierung unserer Kämpfe zur Rechtfertigung anderer Gewalttaten zu kämpfen. Zu unserem Slogan zurückkehren: Jiyan, für ein würdiges Leben für alle. 

Sanaz Azimipour ist Aktivist:in, Autor:in und Referent:in. Sie ist in verschiedenen Bewegungen organisiert und arbeitet sowohl akademisch als auch aktivistisch zu sozialen Bewegungen, Transnationalismus und feministischer Philosophie.


[1]  https://taz.de/Soziologe-ueber-deutsches-PKK-Verbot/!5970077/

[2] Wendy Brown, 2006 , Regulating Aversion: Tolerance in the Age of Identity and Empire, Princeton University Press

[3] https://ir.voanews.com/a/shahid-beheshti-university-students-burning-scarf-slogan-iran/6772375.html

[4] The Political Thought of Abdullah Öcalan: Kurdistan, Woman’s Revolution and Democratic Confederalism, 2017, Pluto Press

[5] https://www.radiozamaneh.com/791466/