Trotz der massiven Unterdrückung der Frau-Leben-Freiheit-Bewegung im Iran zeigen die Menschen einen unbeeindruckten Widerstand.
Als Roya Heshmati das Gebäude betreten will, hält sie einen Moment inne. Es hallen die verzweifelten Schreie einer Frau wider. „Roya, überlege dir das noch einmal”, rät ihr Anwalt. Doch Roya bleibt bei ihrer Entscheidung. Demonstrativ zieht sie ihr Kopftuch ab und betritt das Eingangstor. Gemeinsam passieren sie die Eintrittshalle und betreten einen anderen Raum, die erste Abteilung der Strafvollstreckung. Ein Mitarbeiter befiehlt sofort: „Leg dein Tuch auf deinen Kopf, wenn du Ärger vermeiden möchtest.“ Die 33-jährige Kurdin bleibt ruhig. “Ich bin hierhergekommen, um dafür gepeitscht zu werden. Ich werde es nicht tragen”, erklärt sie bestimmt.
Im Namen der Frau, im Namen der Freiheit
Die Strafvollstreckungsbehörde ist eine von 22 Einrichtungen in Teheran, die eine tragende Rolle bei der Unterdrückung und Verfolgung von Iraner:innen spielen. An diesem Morgen erhielt Roya einen Anruf vom Büro, dass heute die ihr auferlegte Strafe vollstreckt werden soll: 74 Peitschenhiebe. Nun steht Roya gemeinsam mit einem Richter und einem Vollstreckungsbeamten in einem düsteren Kellerabteil. Am Ende des Raumes befindet sich ein Bett mit Handschellen und an beiden Seiten angebrachte Eisenbänder. Hinter der Eingangstür befindet sich ein kleiner Tisch, der mit verschiedenen Peitschen beladen ist. Der Raum gleicht einer mittelalterlichen Folterkammer. Ursprünglich drohten Roya 13 Jahre Haft, als Grund für ihre Verurteilung wurden sogenannte „moralische Verstöße“ angeführt. Dies geschah, weil sie im April 2023 ein Foto ohne das im Iran obligatorische Kopftuch auf sozialen Medien veröffentlicht hatte. Während die Peitschenhiebe über ihren gesamten Körper niedergehen, zählt Roya nicht mit. Stattdessen stimmt sie ein Lied an:
Im Namen der Frau,
im Namen des Lebens,
die Kleider der Sklaverei werden zerrissen,
unsere schwarze Nacht wird weichen,
alle Peitschen werden zerstört…”
Das vereinte Volk
Als Melodie zieht sie ein berühmtes revolutionäres Lied aus Chile heran. „¡El pueblo unido jamás será vencido!” (auf Spanisch: Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden) wurde 1970 von dem Chilenen Sergio Ortega komponiert. Als ein wichtiges Revolutionslied im politischen Kampf vieler Länder bekannt, ist es in Iran zu einer Art Freiheitshymne geworden. Als 2022 Jina (Mahsa) Amini von der iranischen Sittenpolizei in Teheran verhaftet wurde und in Polizeigewahrsam durch physische Gewalt starb, begannen mit der Beerdigung der 22-Jährigen, ausgehend von der kurdischen Stadt Saqqez, Menschen zu protestieren und zu streiken. Die Demonstrationen weiteten sich über das gesamte Land, über Ethnien und Religionen aus – und vereinten ein Volk. Im Zuge dessen erlangte insbesondere der kurdische Ausspruch „Jin, Jiyan, Azadî“ (Frauen, Leben, Freiheit) zentrale Bedeutung. Dieser ist im Rahmen der kurdischen Freiheitsbewegung während des Kampfes gegen den Islamischen Staat entstanden. Seitdem solidarisieren sich Männer und Angehörige sexueller Minderheiten mit den Frauen, liefern sich Gefechte mit den Sicherheitskräften, die mit blutiger Gewalt reagieren. Im Zusammenhang mit den Protesten wurden seit September 2022 mindestens 551 Menschen getötet, darunter viele Jugendliche und Kinder.[1] Amnesty International[2] veröffentlichte im Dezember 2023 einen Bericht über sexualisierte Gewalt und Folter, die im Iran gezielt genutzt wird, um Protestierende einzuschüchtern.
Die Radikalisierung eines Landes
Protestbewegungen sind im Iran an sich nichts Ungewöhnliches. Doch während vorherige Proteste vor allem sektorielle Forderungen wie unbezahlte Löhne, Dürre oder Arbeitslosigkeit betrafen, hat laut Politikwissenschaftler Asef Bayat[3] die aktuelle Bewegung eine kollektive Forderung nach „Frau, Leben, Freiheit“ geschaffen, die verschiedene soziale Gruppen vereint. Diese Bewegung hat somit eine revolutionäre Dimension angenommen und fordert nicht nur die Abschaffung der Sittenpolizei und des obligatorischen Kopftuchs, sondern auch eine politische Revolution sowie strukturelle sozioökonomische Veränderungen. Aber nicht nur die Proteste der letzten Jahre haben eine Entwicklung vollzogen, sondern auch das Regime seit seiner Errichtung im Jahre 1979 selbst. Während es zunächst einem Wechselspiel aus konservativen Hardlinern und Reformern unterstand, hat sich das politische System des Iran seit den Protesten von 2009, der sogenannten Grünen Bewegung, bei der sich die Protestierenden für den Reformer Mussawi einsetzten, radikalisiert. Bei den letzten Wahlen des Parlaments sowie des Expertenrates wurden keine reformorientierten Kandidat*innen mehr zugelassen. Diese Alternativlosigkeit hat dazu geführt, dass seit 2017 in immer kürzeren Abständen im Iran Proteste stattfinden, die sich gegen das Regime richten. Obwohl das Regime immer wieder versucht, den Druck im brodelnden Kessel der iranischen Bevölkerung zu regulieren, ist es dennoch nicht in der Lage, die lodernde Flamme zu ersticken.
Unbeeindruckter Widerstand
Das zeigen besonders die Frauen, von denen sich trotz der massiven Unterdrückung und Gewalt seitens des Regimes mittlerweile viele weigern, sich der Kleiderordnung der Machthaber zu beugen. Selbst ein Jahr nach dem Tod von Jina (Mahsa) Amini bewegen sich viele Frauen weiterhin ohne Kopftuch in der Öffentlichkeit und gehören mittlerweile in vielen Teilen des Landes zum alltäglichen Stadtbild. Das Regime versucht nach wie vor, gegen diese Entschlossenheit anzukämpfen, etwa durch die Ankündigung, landesweit Hightech-Kameras und Gesichtserkennung einzusetzen, um Frauen ohne Kopftuch zu identifizieren und zu bestrafen. Ihnen drohen horrende Strafen wie jahrelange Haft, Ausreiseverbote oder hohe Geldstrafen. Oder wie in Roya Heshmatis Fall Peitschenhiebe. Zumindest in Royas Fall dürfte diese Maßnahme nur wenig Eindruck hinterlassen haben. „Es ist nunmal das Gesetz und dieses muss durchgesetzt werden“, soll der Richter nach der Bestrafung zu Roya gesagt haben. Sie könne das Land verlassen, wenn sie einen anderen Lebensstil führen möchte. „Lassen sie das Gesetz Gesetz sein“, antwortete Roya daraufhin. „Wir werden unseren Widerstand fortsetzen.“ Mit diesen Worten nahm Roya ihr Kopftuch ab und verließ die Behörde.
[1] https://iranhr.net/en/articles/6200/
[2] https://www.amnesty.org/en/latest/news/2023/12/iran-security-forces-used-rape-and-other-sexual-violence-to-crush-woman-life-freedom-uprising-with-impunity/#:~:text=Security%20forces%20in%20Iran%20used,a%20new%20report%20published%20today.
[3] https://www.journalofdemocracy.org/articles/is-iran-on-the-verge-of-another-revolution/
Sara Mohammadi, geboren in Wien, ist freie Journalistin und Studentin der Internationalen Entwicklung mit iranischen Wurzeln. Sie schreibt über die MENA-Region, Migration und soziale Gerechtigkeit.