Als ich dreißig war, verbesserte ich die Beziehung zu meinem Vater, indem ich ihm eine Ohrfeige verpasste. Es war keine Affekthandlung. Es war eine wohlüberlegte, wohldosierte, ich möchte fast sagen wohlwollende Schelle. Es fühlte sich großartig an.
Wir waren bei der Tauffeier meines Neffen Ingo. Ich war Pate und hatte ihm einen Birnbaum gekauft. Traditioneller wäre ein Apfelbaum gewesen. Ich erfülle Erwartungen gerne fast, aber um eine Spur nicht. Meine traurige Variante von Rebellion.
Wir saßen im Garten am Tisch und sprachen über Autos. Meine Schwester nahm sich ein Stück Apfelkuchen, und mein Vater zwickte ihr in die Hüfte.
„Wird nicht weniger, wa?“
Ich muss dazusagen, dass Vater nach seinem Fünfzigsten mit Rennrad angefangen hat und seitdem Menschen, die keinen Leistungssport betreiben, nicht mehr für voll nimmt.
„Lass das“, sagte meine Schwester.
„War doch nur ein Scherz. Sei nicht so empfindlich.“
Ich wartete an diesem Tag nur auf eine Gelegenheit, meinem Vater eine zu klatschen. Ich hatte meinem Therapeuten erzählt, wie mein Vater mir und meinen Geschwistern permanent in die Hüfte, das Ohr oder den Oberschenkel kniff. Er nannte das „piensen“. Zum ersten Mal gab mein Therapeut mir einen wirklich nützlichen Ratschlag: „Warum hauen Sie ihm beim nächsten Mal nicht eine rein?“
Ich saß also auf glühenden Kohlen und lauerte auf eine passende Gelegenheit.
Ingo rannte mit seiner Cousine um den Tisch herum. Sie spielten fangen, aber waren gleich schnell, und so dauerte eine Runde ziemlich lange. Plötzlich riss mein Vater Ingo mitten im Sprint von den Beinen und zwang ihn auf seinen Schoß.
Ingo versteifte sich und rief: „Runter!“
Vater antwortete: „Jetzt kommst du mal zu Opa.“
Ingo wehrte sich kurz, dann gab er auf. Er schaute meine Schwester an, die wütend aussah, aber nichts sagte. Jetzt war es so weit. Geh einfach rüber. Knall ihm eine, dass er vom Stuhl fliegt.
Aber ich war zu feige.
Vater spielte mit Ingo Brot tragen. Brot tragen ging so: Er kniff erst vorsichtig, dann immer stärker in Ingos Oberschenkel. Wenn Ingo einen Mucks machte oder zusammenzuckte, konnte er kein Brot tragen. Wer kein Brot tragen konnte, war ein Schlappschwanz. Ich dachte an das viele Brottragen meiner Kindheit und ballte die Faust.
Nach dem Kuchen suchten meine Schwester und ich eine Stelle im Garten für den Birnbaum. Mein Vater trottete hinter uns her und gab Ratschläge.
Ich schlug vor, das Loch zusammen mit Ingo zu graben. Begeistert holte Ingo seine Kinderschaufel. Wir gruben langsam und ernsthaft. Meine Schwester filmte. Ein richtiger Bonding-Moment zwischen Ingo und mir, ein Moment fürs Familienalbum.
„Hast du schon mal ein Loch gegraben?“
„Du gräbst wie ein echter Städter.“
„Brauchst du Hilfe?“
„Da kommst du ganz schön ins Schwitzen, was?“
„Du musst die Schaufel so halten.“
Ich dachte, wenn ich meinen Vater ignoriere, würde er vielleicht schweigen. Das Gegenteil war der Fall. Je länger Ingo und ich gruben, desto höher wurde die Schlagzahl der Sprüche.
Meine Schwester bat meinen Vater, den Mund zu halten.
„Ist doch nur Spaß“, sagte er und fuhr fort.
Ich warf einen Blick auf meine Schwester und vergewisserte mich, dass sie noch filmte. Der Moment war gekommen. Ich dachte, wenn ich das Video meinem Therapeuten zeige, kriegt der einen Orgasmus.
Ich bat Ingo, kurz meine Schaufel zu halten, und stieg aus dem Loch. Auf dem Video sehe wirklich gut aus mit den hochgekrempelten Ärmeln. An meiner Schläfe pochte eine Ader.
Ich ging rüber zu meinem Vater.
„Bist du jetzt beleidigt?“, fragte er.
Ich holte aus und knallte ihm eine. Ich stellte mir vor, dass man das Klatschen im ganzen Dorf hörte. Wie gesagt, es fühlte sich großartig an.
Seit diesem Tag hat sich etwas in der Beziehung zwischen meinem Vater und mir verändert.
Vater redet jetzt mit mir wie mit einem Erwachsenen und nicht wie mit einem trotzigen Kind. Ich rede jetzt mit ihm wie mit einem Erwachsenen und nicht wie mit einem nervigen Vater.
Meinem Therapeuten schenkte ich zum Dank eine Schachtel Mon Chéri.
Ich studiere berufsbegleitend Biografisches und Kreatives Schreiben an der Alice-Salomon- Hochschule Berlin. In einem Modul zum Thema „Lebensphasen/Lebenskrisen“ bekamen wir die Aufgabe, über die eigenen Eltern zu schreiben. Ich war schon eine Weile gefrustet über die Queerfeindlichkeit und die normativen Vorstellungen von Lebensphasen, die die Workshopleitung uns präsentierte. Darum habe ich eine provozierende und ganz und gar nicht versöhnliche Geschichte geschrieben und den Frust in etwas halbwegs Produktives verwandelt. Das Schreiben fühlte sich großartig an.